Rezensionen Satire

Hans Traxler – Die Wahrheit über Hänsel und Gretel

erschienen bei Reclam


Schon seit frühester Kindheit war der Mittelschullehrer Georg Ossegg von Märchen fasziniert und war sich sicher, dass hinter ihnen ein wahrer Kern stecken müsste. War nicht bereits Schliemann lediglich mit der Ilias als Hilfe auf die Ruinen des vermeintlich fiktiven Troja gestoßen? Warum sollte eine vergleichbare Sensation nicht auch mit den Grimmschen Märchen möglich sein? Akribisch geht Ossegg jedem noch so kleinsten Hinweis nach, findet erste Spuren und bringt schließlich in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine ungeheure Wahrheit ans Licht. 
Der Karikaturist und Illustrator Hans Traxler hat mit „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ eine herrliche Wissenschaftssatire geschrieben, die ihresgleichen sucht. Inspiriert von „Götter, Gräber und Gelehrte“ sowie vergleichbare populärwissenschaftliche Bücher wollte er eine Parodie im Stile diverser Schliemann-Biografien schreiben. Und so lässt er Georg Ossegg in einem Wald auf erste Spuren stoßen, dort in Eigenregie graben und dabei sensationelle Entdeckungen machen. Das ganze garniert Traxler mit zahlreichen Abbildungen: mit Grabungsfotos, Abzeichnungen von Kupferstichen, einem Modell des vermeintlichen Hexenhauses, mit einer alten Handschrift, usw.
Dabei nimmt er genüßlich den Wissenschaftsbetrieb aufs Korn und lässt Ossegg gar abenteuerliche Schlüsse ziehen. Und das alles so ernsthaft präsentiert und mit so vielen Quellen gestützt, dass man sich immer wieder fragt, ob das denn nun alles erfunden ist oder ob zumindest in Teilen davon ein wahrer Kern stecken kann. 
Tatsächlich ist Traxler seine Parodie dermaßen gut gelungen, dass nach dem ersten Erscheinen im Jahr 1963 schlichtweg niemand erkannte, dass dieses Buch keineswegs ernst gemeint war. Ist das Buch an sich schon eine köstliche Lektüre, so ist seine Rezeptionsgeschichte beinahe noch besser. Denn Hans Traxler und sein Verlag wurden überschüttet mit Briefen und Anfragen. Da gab es Wissenschaftler, die nun selbst auf der Basis von Osseggs Erkenntnissen weiterforschen wollten, ausländische Verlage, die diesen Meilenstein der Märchenforschung übersetzen wollten und schließlich auch Skeptiker, die einzelne Aspekte anzweifelten und dementsprechend Georg Ossegg seine voreiligen Schlussfolgerungen vorwarfen. 
Als später die Wahrheit ans Licht kam, wurde es beinahe noch schlimmer, denn Hans Traxler ereilte ein wahrer – wie man heutzutage sagen könnte – Shitstorm und er bereute es mehr als einmal, diesen Text überhaupt geschrieben zu haben.
Die Reclam-Ausgabe widmet sich im Anhang ausführlich dieser Rezeptionsgeschichte. So findet man nach Erläuterungen von Traxler zur Entstehung des Buches (es ist ein herrlicher Spaß, wenn er beschreibt, wie etwa die „Grabungsfotos“ entstanden sind) auch Auszüge aus Zeitungsartikeln und Leserbriefen.
Das ganze ist so absurd, dass ich gefangen zwischen Lachen und fassungslosem Kopfschütteln diese Auszüge las. Ja, Traxlers Buch ist meisterhaft gestaltet, aber vieles ist so unsinnig, dass ich mir nicht erklären kann, wie selbst Fachleute darauf hereinfallen konnten und noch weniger, wie sich Menschen dermaßen über eine Parodie empören können.
Was ist aber nun die ungeheuerliche Wahrheit über Hänsel und Gretel, die in diesem Buch ans Tageslicht kommt? Um das herauszufinden, solltet ihr das Buch selbst lesen. Es ist nämlich eine sehr witzige, clevere Idee, die Hans Traxler sich hier überlegt hat und die Lektüre kann ich allen nur empfehlen.
„Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ ist ein ungemein lustiges, kreatives, intelligentes und unverfrorenes Buch, das ich mit großer Begeisterung weiterempfehlen kann!
Oder um die Stuttgarter Nachrichten vom 4.4.1964 zu zitieren:
Noch nie jedoch ist die Wissenschaftshörigkeit […] so köstlich auf den Arm genommen worden und so raffiniert.

4 thoughts on “Hans Traxler – Die Wahrheit über Hänsel und Gretel

  1. Salut, Neyasha.
    Satire ist für manche alteingessene Wissenshaft eben nur dann Satire, wenn es groß zu lesen steht. Frei dem Motto entsprechend, für das Lachen einen verfügbaren Keller aufzusuchen.
    Wenn dann bloßgestellt geht der allgemeine Trend eher dahin einen Sündenbock zu deklarieren, dem in Tateinheit auch der drohende Untergang des Abendlandes angeheftet wird. Die Besitzstände wahren!

    Dummheit, Selbstüberschätzung & Narzissmus sind allerdings in den fünf Jahrzehnten seither nicht weniger geworden. Ebensowenig wie die breitere Akzeptanz besagter Eigenheiten.

    Off topic…
    Mit den ersten 6 Wochen des neuen Jahres hatte ich ständig das Pech, lediglich Deinen letzten Post von 2016 angezeigt zu bekommen. Ich hatte schon einen Hiatus im Verdacht – oder den Doctor. 🙂
    Bis ich letztens auf reinen Verdacht "Vom Lesen…" in den Browser eintippte (& nicht übers Lesezeichen aufrief). Siehe da, ich konnte mich durch ein Meer Deiner Beiträge (seither) scrollen.
    Von daher meine Abstinenz. Sorry.

    bonté

    1. Zum einen ist es wohl tatsächlich das Unvermögen Satire zu erkennen, zum anderen möglicherweise aber auch, dass gerade im archäologischen Bereich schon oft so abenteuerliche Schlussfolgerungen gezogen wurden, dass manche sich schon über gar nichts mehr wundern.

      Das mit den Beiträgen ist seltsam, aber gut, dass du jetzt wieder alles angezeigt bekommst. Der Doctor wars leider nicht. 😉

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