Gegenwartsliteratur Rezensionen

Isabelle Autissier – Klara vergessen

erschienen bei mare

Vor vielen Jahren hat Juri seiner Heimat Murmansk, auf der russischen Halbinsel Kola nördlich des Polarkreises gelegen, den Rücken gekehrt und sich in den USA ein neues Leben aufgebaut. Nun kehrt er zurück, da sein Vater Rubin im Sterben liegt und nach ihm fragt, obwohl die beiden nie ein gutes Verhältnis hatten. Aber sein Vater hat einen Auftrag für ihn: Juri soll herausfinden, was mit Rubins Mutter Klara passiert ist, die zur Zeit Stalins verhaftet wurde, als Rubin noch ein kleines Kind war. Seit damals ist Klara spurlos verschwunden und Rubin hat nie herausgefunden, was der Grund für ihre Verhaftung war und was mit ihr geschehen ist. Und so beginnt Juri der Geschichte seiner Familie auf den Grund zu gehen.

„Herz auf Eis“, der Debütroman von Isabelle Autissier, hat mich beeindruckt wie kaum ein Buch zuvor. Als ich gesehen habe, dass die Autorin einen neuen Roman veröffentlicht hat, hätte ich daher blind zugegriffen, aber tatsächlich haben mich auch der Schauplatz und die Inhaltsbeschreibung neugierig gemacht.

„Klara vergessen“ ist erneut ein aufwühlender, mitunter schonungsloser Roman, der die Geschichte einer Familie über drei Generationen erzählt. Aus den Blickwinkeln von Juri, Rubin und Klara erfährt man, wie dieser Schicksalsschlag – Klaras Verschwinden – nicht nur die Kindheit ihres Sohnes, sondern auch die ihres Enkels geprägt hat. Rubin, als Sohn einer „Verräterin“ verachtet, lernt früh hart zu sein und sieht in der Erziehung seines Sohnes auch nur das Ziel, Juri abzuhärten. Sowohl ihre persönlichen Lebenswege als auch die Lebensbedingungen in Murmansk sind alles andere als einfach. Sehr aufwühlend ist auch die Beschreibung von Klaras Gefangenschaft und ihren Befragungen. Dennoch gibt es in ihrer aller Leben Lichtblicke und jede Person findet jeweils ihren eigenen Weg zu einer gewissen Art von Freiheit.

Alle drei Figuren sind interessante Personen, auch wenn der klare Sympathieträger Juri ist – vermutlich auch deshalb, weil der Roman mit ihm beginnt. Es ist aber auch interessant, wie sich der Blick auf die Personen im Laufe der Erzählung verändert, wenn man nach und nach mehr von ihnen erfährt. Autissier gewährt viele Einblicke in die Gedanken und Gefühle der drei, auch wenn sie ihre Figuren gewissermaßen auf Distanz hält. Das passt aber durchaus zur Geschichte und ihr einerseits nüchterner, andererseits aber doch sehr eindringlicher Schreibstil hat mir wieder gut gefallen. Besonders schön sind auch wieder die Beschreibungen der Natur und der Stadt Murmansk. Die Vogelbeobachtungen von Juri, Rubins Fischtrawler auf der rauen See, die kalte Landschaft des Nordens, Murmansk zwischen sowjetischer Vergangenheit und Moderne – all das fängt Isabelle Autissier in sehr bildhaften Beschreibungen ein.

Mir hat „Klara vergessen“ sehr gut gefallen, auch wenn es mich nicht ganz so überwältigt hat wie „Herz auf Eis“. Letzteres war einfach auf eine Art und Weise fesselnd, wie ich es bei Büchern nur selten erlebe. Nichtsdestotrotz habe ich auch „Klara vergessen“ sehr spannend gefunden und kann es vielleicht sogar mit einem besseren Gefühl weiterempfehlen, da es nicht ganz so schonungslos und grausam ist wie Autissiers Debüt.

2 thoughts on “Isabelle Autissier – Klara vergessen

  1. Vor allem sind Cover und Titel schon mal sehr genial. :O

    Die Geschichte klingt auch interessant. Ich mag es ja auch gerne, wenn die Figuren nach und nach weitere Facetten dazu bekommen.

    1. Ich mag das Cover auch total gern. Lustige Anekdote am Rande: Als ich gemeinsam mit meiner Arbeitskollegin in der Buchhandlung war, hat sie einen Blick auf das Cover geworfen und meinte „Ich dachte mir schon, dass das ein Judith-Buch ist“. 😉

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