erschienen bei Argon Hörbuch
auch als Download bei Audible erhältlich
ungekürztes Hörbuch (20 h)
gelesen von Gabriele Blum
England in der Industriellen Revolution: Die Pfarrerstochter Margaret Hale muss mit ihren Eltern aus dem ländlichen Süden nach Milton ziehen, eine Stadt im Norden, die von Handel und Industrie beherrscht wird. Margaret kann sich nur schwer an das veränderte Leben und das laute, hektische Treiben in der Stadt gewöhnen. Während sie sich rasch mit der Arbeiterfamilie Higgins anfreundet, begegnet sie dem Fabrikbesitzer John Thornton zunächst mit Vorurteilen und Ablehnung. Als es zum Streik der Arbeiter kommt, findet Margaret sich zwischen den Fronten wieder.
Ich liebe schon seit längerem die BBC-Miniserie „North & South“ mit Daniela Denby-Ashe und Richard Armitage. Leider gab es den Roman lange nur in einer sehr veralteten und offensichtlich nicht sehr werkgetreuen Übersetzung – und über Klassiker traue ich mich auf Englisch nicht so recht drüber. 2014 erschien schließlich eine neue Übersetzung von Christina Neth, die mittlerweile auch von Argon Hörbuch vertont wurde. Für mich also die passende Gelegenheit, um endlich zuzuschlagen – und es hat sich mehr als gelohnt.
„Norden und Süden“ ist ein wenig, als hätte man eine Liebesgeschichte ala „Stolz und Vorurteil“ um eine sozialkritische Ebene erweitert – und was für eine Ebene das ist! Elizabeth Gaskell beschreibt in diesem Roman das Leben in einer Industriestadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts so kritisch und differenziert, dass lediglich die Sprache verrät, dass es sich hier nicht um einen modernen Roman handelt. Anfangs entsteht noch der Eindruck, dass hier einem idyllisch-romantischen Süden die Industriestadt als negativer Pol gegenübergestellt wird. Aber es ist vor allem Margarets Blick, der Milton zunächst in ein negatives Licht stellt und die Welt in ein vermeintliches Schwarz-Weiß-Schema einteilt (Norden vs. Süden, Stadt vs. Land, Fabrikbesitzer vs. Arbeiter). Aus Lesersicht wird schnell klar, dass sich die Sache nicht so einfach gestaltet – und allmählich muss das auch Margaret erkennen.
Es ist eine große Stärke des Romans, dass so viele verschiedene Sichtweisen dargestellt werden und keine davon klar als richtig oder falsch betrachtet werden kann. Neben Margarets Perspektive bekommt man vor allem tiefe Einblicke in Mr. Thorntons Gedanken und Gefühle, aber es kommen auch noch viele weitere Figuren in interessanten und intelligenten Dialogen zu Wort.
Ich habe beim Lesen fast alle diese Figuren ins Herz geschlossen und mit ihnen mitgelitten: Mit Mr. Higgins und seinen Töchtern, Margarets Eltern, ihrer oberflächlichen, aber liebenswerten Cousine und tatsächlich auch mit John Thorntons strenger Mutter. Mit Margarets Bruder kommt schließlich noch eine weitere gesellschaftskritische Komponente mit ins Spiel, nämlich der geforderte bedingungslose Gehorsam im Militär und was es bedeutet, wenn man sich diesem aus moralischen Gründen widersetzt.
Im Zentrum des Romans stehen aber natürlich Margaret und John Thornton, die beide sehr lebendig gezeichnet sind und sowohl Stärken als auch Schwächen haben. Die Liebe zwischen ihnen entsteht nur langsam, da Margaret anfangs Johns Gefühle nicht erwidert – und es bleiben auch einige Missverständnisse nicht aus. Es ist sehr schön mitzuerleben, wie sich die Einstellung der beiden allmählich ändert, wie sie einander besser kennenlernen und den Horizont des/der jeweils anderen erweitern.
Weshalb Elizabeth Gaskell im Vergleich zu Jane Austen eher unbekannt ist, ist mir ein völliges Rätsel, da „Norden und Süden“ wirklich ein wunderbarer, kraftvoller Roman ist, der ein ungemein lebendiges und vielschichtiges Bild der damaligen Zeit zeichnet. Und noch dazu handelt es sich bei Margaret um eine erstaunlich selbstbestimmte und mutige junge Frau, deren Ideale auch heute noch gültig sind.
Vielleicht führt der Roman deshalb ein Schattendasein, da es sich nicht unbedingt um leichtfüßige Wohlfühllektüre handelt. Es gibt einige traurige Ereignisse und man muss von so manchen liebgewonnen Figuren Abschied nehmen. Umso mehr vermag das Ende zu strahlen – und ich habe es mir tatsächlich zweimal hintereinander angehört, weil ich es so schön fand.
„Norden und Süden“ ist ein eher ruhig erzählter Roman, der aber trotzdem sehr viel Wut, Trauer, Leidenschaft und sozialen Sprengstoff in sich trägt. Für mich war es eines der besten Bücher der letzten Jahre und ich kann es allen, die gern Klassiker lesen, nur wärmstens ans Herz legen. Die Lesung von Gabriele Blum war sehr gelungen und ich halte auch die Verfilmung für eins der besten Period Dramas überhaupt.
Also: Unbedingt lesen/hören und danach anschauen. Aber auch die umgekehrte Reihenfolge funktioniert – wie ich selbst bestätigen kann – sehr gut.
Bore da, Neyasha.
Man/frau denkt bei solchen Romanwelten vordergründig gern an den Aspekt "Historie". Nachbetrachtet wird einem schnell bewußt, daß die Zeitepoche noch nicht wirklich lange Vergangenheit ist. Ich denke, die Reflexion darüber und die Selbstverständlichkeit unserer Freiheiten, Erungenschaften & Rechte, kann uns immer wieder nur erneut sensibilisieren. Der Backclash erhebt doch immer wieder seine vielgesichtigen Häupter.
bonté
Selbst, wenn eine Epoche schon lange Vergangenheit ist, findet man darin oft sehr aktuelle Aspekte oder Ansichten bzw. können davon noch etwas lernen. Das ist auch mit das schöne daran, wenn man in solche Werke eintaucht, finde ich.
Hach, ist das schön, bei dir genau all das wiederzulesen, was ich selbst zu diesem großen, wichtigen Roman gedacht habe. Mir ist ebenfalls ein Rätsel, warum er im Kanon (selbst im universitären Kontext) hinter anderen aus der Epoche zurücksteht. Ich meine, dass er durch die Innenperspektiven selbst formal interessant ist. Und auch die Serie ist eine großartige Umsetzung.
Ja, da würde ich dir auf jeden Fall zustimmen, dass der Roman auch formal interessant ist. Wirklich schade, dass er nicht mehr Beachtung bekommt. Ich lese Jane Austen und die Bronte-Schwestern sehr gern, aber dieser Roman hat mich nochmal viel tiefer berührt.
Die Serie habe ich mittlerweile schon dreimal gesehen und finde sie immer wieder toll.
OH WIE TOLL! Habe gleich mal bei spotify geschaut und die haben das Hörbuch da tatsächlich auch – sogar ungekürzt! Ich hoffe also, dass ich das Hören und Anschauen bald umsetzen kann. Zwar kann ich jetzt noch nicht mit dem Hören anfangen, aber da ich eh mal wieder zu einem Hörbuch greifen wollte…
Deine Rezension macht auf jeden Fall direkt Lust darauf! 🙂
Sehr fein. 🙂 Dann hoffe ich mal, dass du bald dazu kommst und damit ebenso viel Freude hast wie ich.
Ich glaube, dass eben auch die unglücklichen Übersetzungen dazu beigetragen haben, dass Elizabeth Gaskell in Deutschland relativ unbekannt ist. Außerdem sind ihre ersten Bücher, wenn ich mich richtig erinnere, seifenopernhafter als ihre späteren Werke und dementsprechend nicht so beeindruckend. Ich muss aber zugeben, dass es schon sehr lange her ist, dass ich sie gelesen habe, und natürlich hatte die Bibliothek damals nur deutsche Ausgaben (und "Norden und Süden" war nicht dabei, wenn ich mich recht erinnere), was den Eindruck natürlich verfälscht.
Hm, vielleicht sollte ich meine Erinnerung mal auffrischen – deine Begeisterung macht auf jeden Fall Lust darauf. 🙂
Im deutschen Sprachraum wird sicher die Übersetzung eine Rolle spielen, aber soweit ich das mitbekommen habe, steht Gaskell auch im englischen Sprachraum weit hinter Austen und den Bronte-Schwestern zurück.
Ich kenne sonst nur Verfilmungen, daher traue ich mir zu ihren anderen Werken kein Urteil zu – aber in punkto "seifenopernhaft" könnte man ja zu Austen auch so einiges sagen. 😉
Klingt richtig richtig gut. Der Vergleich mit Austen zieht bei mir und Sozialkritisches stößt bei mir auch auf Interesse. Das freut mich umso mehr, da ich ja auf der Suche nach neuen Autorinnen bin 🙂
Ich habe Glück: Das Hörbuch gibts in meiner Stadtbibliothek – beim nächsten Gang werde ich es ausleihen. Die Miniserie wollte ich auch schon lange ansehen, aber das Buch kommt wie immer zuerst.