erschienen bei Picador
Mitte des 19. Jahrhunderts wird die englische Krankenschwester Elizabeth Wright, genannt Lib, in ein irisches Dorf gerufen, um ein angebliches Wunder zu untersuchen. Die katholische Familie O’Donnell behauptet, dass deren elfährige Tochter Anna seit Monaten nichts gegessen hat. Nun sollen auf Geheiß einer Kommission Lib und eine irische Nonne das Mädchen für zwei Wochen beobachten, um herauszufinden, was es damit auf sich hat. Lib, die zunächst davon ausgeht, dass sie hier schnell einen schlichten Betrug aufklären wird, ist angesichts des Falles ratlos – und besorgt um das Mädchen, dessen Gesundheitszustand sich auf einmal zu verschlechtern scheint.
„The Wonder“ ist ein fesselnder historischer Roman, zu dem Emma Donoghue von sogenannten „fasting girls“ der viktorianischen Zeit inspiriert wurde. Die Autorin behandelt in dem Buch nicht nur religiösen Eifer und Aberglauben, sondern auch eine tragische Familiengeschichte und die Konflikte zwischen Iren und Engländern. Lib ist als skeptische, aufgeklärte Krankenschwester eine gute Identifikationsfigur, ohne dass sie zu modern für das Setting wirken würde.
Am Anfang hat der Roman ein paar Längen, wenn detailliert beschrieben wird, wie Lib Anna untersucht und beobachtet, aber für den späteren Verlauf ergeben diese Szenen durchaus Sinn. Und es dauert auch nicht lange, bis die zunächst sehr stille, unterschwellige Spannung zunimmt. Während ich mich zuerst noch gefragt habe, was es mit Anna auf sich hat und was hinter ihrem Hungern steckt, habe ich mit der Zeit mehr und mehr begonnen um sie zu bangen. Es ist schockierend zu lesen, wie sie sich in einen religiösen Eifer hineinsteigert, was von ihrer Umgebung noch unterstützt wird, obwohl es ihr sichtlich schadet. Und irgendwann kam auch das ganz entsetzliche Gefühl dazu, dass ich als Leserin quasi mit dabei zuschaute, wie hier ein Kind langsam verhungert. Ich spürte bald eine ähnliche Beklemmung und Ohnmacht wie Lib, die irgendwann nicht mehr die Rolle der distanzierten Beobachterin aufrechterhalten kann.
Wie all die Zusammenhänge sind, was hinter Annas Hungern steckt und wie sie monatelang so überleben konnte, fand ich überzeugend aufgelöst. Dass auch eine kleine Liebesgeschichte mit ins Spiel kommt, hätte ich nicht unbedingt gebraucht, aber für das Ende der Geschichte ist sie tatsächlich nicht ganz unbedeutend, insofern habe ich mich auch nicht sehr daran gestört.
Fazit: Ein sehr beklemmender Roman, der zwar langsam beginnt, aber schnell an Fahrt aufnimmt und dann auch ungemein fesselt. Die darin angesprochenen Themen sind ziemlich heftig, man sollte sich also von dem beschaulich wirkenden Cover nicht täuschen lassen. Das Buch ist mitunter recht harter Tobak und hat mich stellenweise auch sehr verstört. Eine ganz klare Leseempfehlung von mir, aber man sollte wissen, worauf man sich da einlässt.
Danke für deine Rezension! Um das Buch schleiche ich schon eine Weile herum, nachdem ich einige begeisterte Stimmen gehört habe, aber nach deiner Meinung zu dem Roman lasse ich lieber die Finger davon – zumindest im Moment ist mir nicht nach „hartem Tobak“ und einer stellenweise verstörenden Lektüre.
Kann ich verstehen – das Buch ist definitiv keine Wohlfühllektüre, auch wenn ich es sehr spannend und interessant fand. Vielleicht hast du ja zu einem späteren Zeitpunkt doch noch Lust drauf.