Klassiker Rezensionen

Anne Brontë – Die Herrin von Wildfell Hall

Genre: Klassiker
Seiten: 653
Verlag: Insel Verlag
ISBN: 978-3458332473
Meine Bewertung: 5 von 5 Sternchen

Klassiker-Challenge (UK)
Themen-Challenge (Selbstverwirklichung)

Die ganze Nachbarschaft gerät in Aufruhr, als eine junge Frau mit ihrem Kind das alte Haus Wildfell Hall bezieht, umso mehr, da Helen Graham sich abweisend und unnahbar gibt. Bald entstehen erste bösartige Gerüchte um die vermeintliche Witwe. Nur der Farmer Gilbert Markham will diese Gerüchte nicht glauben, da sich zwischen ihm und Helen eine zarte Freundschaft zu entwickeln beginnt. Dennoch kann auch er nicht leugnen, dass die junge Frau offensichtlich einige Geheimnisse hat. Welcher Art diese Geheimnisse sind, erfährt er erst, als Helen ihm ihr Tagebuch zu lesen gibt, in dem die Ereignisse aufgeschrieben hat, die sie schließlich nach Wildfell Hall führten.

„Die Herrin von Wildfell Hall“ ist ein sehr ruhiger Roman, der in gemächlichem Tempo und mit Liebe zum Detail die Lebensgeschichte einer jungen Frau schildert. Trotz seiner Länge wird er aber niemals langweilig, und obwohl es nicht die „großen“ Ereignisse wie etwa in „Sturmhöhe“ von Annes Schwester Emily gibt, weiß er von Beginn an zu fesseln.
Gerade der Beginn, der aus der Sicht von Gilbert erzählt wird, ist reizvoll, da hier die traditionelle Konstellation vieler romantischen Romane dieser Zeit umgekehrt wird: Hier ist die Frau die Geheimnisvolle und Unnahbare, die dem männlichen Ich-Erzähler einfach nicht aus dem Kopf gehen will.
Mit Helens Tagebuch wechselt die Perspektive zu ihr und bleibt dort auch für den Großteil des Romans. Helen ist eine ruhige, aber dennoch interessante Erzählerin. Aus heutiger Sicht wirkt die junge Frau vielleicht übermäßig fromm und duldsam, aber es treten doch auch ihr Mut und ihr Selbstbewusstsein klar zutage. Sie scheut nicht davor zurück, sowohl ihrem Mann als auch seinen Freunden immer wieder deutlich ihre Meinung zu sagen und hat trotz ihres großen Pflichtgefühls keineswegs vor, sich einfach in ihr Schicksal zu fügen. In diesen Punkten ist sie eine sehr „moderne“ Frau, wenn sie für mich auch durch ihre extrem hohen Moralvorstellungen und eben jenes Pflichtgefühl der heutigen Zeit ferner wirkt als etwa Jane Austens ironisch-schlagfertige Heldinnen.

Gerade das macht den Roman aber auch so eindringlich: Helen ist die vorbildliche Ehefrau, für heutige Begriffe fast unerträglich duldsam, und doch verurteilen viele sie, als sie schließlich nicht mehr bereit ist, alles einfach hinzunehmen. Was heute für die meisten Frauen eine Selbstverständlichkeit ist, ist für die damalige Zeit unerhört: eine Frau, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchte, die sich gegen ihren Mann auflehnt und nicht bereit ist, alle seine Eskapaden als brave Ehefrau hinzunehmen. Und eine Frau, die schließlich auch die Liebe über Geld und gesellschaftliche Zwänge stellt.
„Die Herrin von Wildfell Hall“ zeichnet kein Idealbild (wie eben viele Austen-Romane, so sehr ich diese auch liebe), sondern bildet hart und schonungslos die Realität ab.

Weshalb Anne Brontë so im Schatten ihrer berühmteren Schwestern Charlotte und Emily steht, ist mir nach Lektüre dieses Romans ein Rätsel. „Die Herrin von Wildfell Hall“ muss sich meiner Meinung nach keineswegs hinter „Jane Eyre“ oder „Sturmhöhe“ verstecken, auch wenn es eben eher ein Roman der leisen Töne ist. Er ist elegant und schwungvoll geschrieben, regt zum Nachdenken an und hallt unweigerlich noch nach dem Zuklappen lange nach.
Auch wenn in der Form manches ein wenig konstruiert wirkt (Wer würde wohl einen so ausführlichen Brief schreiben und darin selbst noch das Tagebuch einer anderen Person einfügen?) und Helen mit ihren hohen Moralvorstellungen etwas anstrengend sein kann, gehört „Die Herrin von Wildfell Hall“ für mich zu den besten Romanen, den ich in den letzten Monaten gelesen habe.
Und ich werde mit Sicherheit auch irgendwann noch ihren anderen Roman „Agnes Grey“ lesen.

Trotz kleiner Kritikpunkte ein meiner Meinung nach fast perfekter Roman. 5 Sternchen!

Übrigens gibt es eine Verfilmung von BBC aus dem Jahr 1996 – und so sehr ich sonst die BBC-Miniserien liebe, diese ist wirklich in die Hose gegangen. Schade, aber vielleicht funktioniert sie besser, wenn man das Buch vorher nicht gelesen hat.

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