Lesegeplauder

Nähe zu den Figuren um jeden Preis?

Für diesen Beitrag habe ich mir schon vor langem einige Notizen gemacht, aber ich bin die ganze Zeit nicht dazugekommen, meine Gedanken endlich auszuformulieren.
Auslöser des ganzen war dieser Blogartikel von Simone Heller, in dem sie über eine hyperrealistische Erzählweise sowohl in Filmen als auch Literatur schreibt. Ich habe damals den Artikel gelesen  und vieles davon hat mir so sehr aus dem Herzen gesprochen, dass ich ebenfalls einige Worte dazu verlieren wollte. Denn gerade das Thema „personale Erzählperspektive“ beschäftigt mich nun schon seit einer ganzen Weile.
Wie Simone Heller finde ich den personalen Erzähler mit seinem Gefühl von „Realität“ und seiner Unmittelbarkeit prinzipiell durchaus wirkungsvoll. Er ermöglicht ein völliges Eintauchen in den Roman und gerade die sehr gekonnt durchgeführte personale Perspektive in „A Song of Ice and Fire“ funktioniert ungemein gut.
Auf Dauer kann aber auch die schönste Erzählweise eintönig werden. Wenn ich überlege, welche Romane mich auf eine Art und Weise fasziniert haben, dass ich den Erzählstil an sich faszinierend fand, dann waren das etwa im Fantasybereich:
– Guy Gavriel Kay mit seiner kommentierenden Erzählweise, den Rückblenden und Vorausdeutungen und all den Spielmitteln, die einem zur Verfügung stehen, wenn man einen allwissenden Erzähler verwendet.
– Der Sagenton des „Herr der Ringe“
– Der wunderbare auktoriale Erzähler der Rahmenhandlung von „The Name of the Wind“, den ich viel mehr mag als den Ich-Erzähler des Hauptteils – ich würde ja lieber mehr über die Gegenwart lesen als über Kvothes Vergangenheit.
Leider wird aber eine solche Erzählstimme immer seltener und oft sogar als „falsch“ oder „schlechter Stil“ empfunden. Das Problem ist vermutlich: Umso mehr man sich als Leser an den personalen Erzähler gewöhnt, umso fremder wirkt alles andere und umso seltener werden solche Romane letzendlich werden.
Ich merke dieses Gefühl der „Fremdheit“ selbst beim Schreiben. Früher war ich viel flexibler und habe so geschrieben, wie es die Geschichte meinem Gefühl nach erforderte. Aber nachdem mir nicht nur Schreibratgeber, sondern auch zahlreiche andere Autoren eingehämmert haben, alles außer der „sauberen“ personalen Perspektive wäre im Grunde ein Perspektivenfehler, bin ich beim Schreiben immer mehr von anderen Möglichkeiten abgekommen.
Natürlich, ein personaler Erzähler schreibt sich sehr nah an den Figuren und ist wohl auch die einfachste Art der Erzählperspektive. Er liest und schreibt sich sehr „natürlich“ und verringert die Distanz zwischen Figuren und Lesern auf ein Minimum.
Dennoch ist es nicht die einzig richtige Möglichkeit, so wie auch eine gewisse Distanz nicht prinzipiell etwas schlechtes sein muss. 
In meinen „Göttersteinen“ habe ich noch einige Relikte aus früheren Jahren, in denen ich beim Schreiben teils auktoriale Einschübe bzw. eine alles überblickende Perspektive gewählt habe; diese helfen enorm, in einer so großen Geschichte mit mehreren Handlungssträngen den Überblick zu behalten.
Aber beeinflusst durch Schreibratgeber, andere Autoren und im Grunde auch durch Bücher wie das erwähnte „Song of Ice and Fire“ hatte ich irgendwann das Gefühl, so dürfte ich nicht schreiben und ich müsste immer nah an einer Figur dranbleiben.
Mittlerweile rücke ich von diesem Dogma wieder ab, aber ich habe das Gefühl, dass ich nun gar nicht mehr anders als streng personal schreiben kann. Ich habe mir offensichtlich meine alte Flexibilität selbst ausgetrieben.
Das finde ich ziemlich traurig und da die personale Erzählweise unter Lesen anscheinend auch immer mehr als die einzig wahre Perspektive gilt, frage ich mich wirklich, ob anderen Erzählweisen (vor allem der auktorialen Perspektive) auf Dauer der Tod beschieden ist. Und das wäre ja wirklich schade.
Wie geht es euch damit? Wollt ihr beim Lesen immer möglichst nah an einer Figur dran sein und ganz in sie eintauchen? Oder genießt ihr auch die Distanz und die gewisse Künstlichkeit, die eine auktoriale Erzählperspektive mit sich bringen? Oder achtet ihr darauf gar nicht, solange die Handlung für euch stimmt? Ist euch Nähe zu den Figuren wichtiger als ein Spiel mit Stilmitteln, die es in einer solch unmittelbaren Erzählweise nicht geben kann?

14 thoughts on “Nähe zu den Figuren um jeden Preis?

  1. Ich glaube, es ist ganz schwer diese Frage pauschal zu beantworten, da das auch immer von der Geschichte im Gesamten abhängt. Ich selbst mag es sehr gern, wenn mir handelnde Personen "nahe" sind. Das heißt aber nicht, dass nicht auch andere Schreibstile toll sein können.

    Lass Dich von der Frage nicht so beeinflussen und schreib so, wie es Dir richtig erscheint, nicht, wie der Leser es vielleicht möchte.

    1. Es hängt auf jeden Fall von der Geschichte ab. Bei "Bühnenzauber" etwa wäre ich gar nicht erst auf die Idee gekommen, überhaupt anders als personal zu schreiben.
      Ich habe halt nur das Gefühl, dass es mir inzwischen selbst seltsam vorkommt, wenn ich nicht eine strenge personale Perspektive einhalte, weil ich sie mir eine Weile lang so eingebläut habe. Und das finde ich schade.

      Aber inzwischen bin ich auch eher wieder bei dem Standpunkt gelandet, dass ich am besten versuche so zu schreiben, wie es die Geschichte verlangt.

  2. Das stimmt. Ich trau mich schon gar nicht mehr, auktorial zu schreiben, weil ich Angst hab, es könnte dann jemand denken, das wär eine unsaubere Personale. Wie schreibt man überhaupt eine unzweifelhafte Auktioriale, die sich nicht vorwerfen lassen kann, eine unsaubere Personale zu sein, bei der aber der Erzähler auch nicht in den Vordergrund rückt? Wenn ich sowas machen wollte, müsste ich mir das erst genau ansehen und üben. Wär also ein ordentlicher Mehraufwand für mich.

    Die auktoriale Ich, so wie in der Name des Windes, mag ich aber auch total gerne. Die personale Ich ist nicht so sehr mein Fall…

    GLG MIra

    1. Auktorial zu schreiben ist auch wirklich nicht so einfach und wird oft gar nicht gleich als eine solche erkannt, wenn man ohne direkte Leseransprachen arbeitet.
      Daher kann ich deine Bedenken da verstehen.
      Wenn allerdings ein Erzähler ganz in den Hintergrund rückt, ist die Frage, ob es nicht ohnehin ein personaler ist. Perspektivenwechsel alleine machen einen Erzähler ja noch nicht auktorial, es kann auch eine personale Multiperspektive sein.

      Es stimmt, dass Kvothe als Ich-Erzähler durch die zeitlichen Abstand ohnehin auktoriale Tendenzen hat. Das fand ich auch gut umgesetzt, wobei ich auch nichts gegen das personale Ich habe. Eigentlich fällt mir gar keine Erzählperspektive ein, die ich nicht mag. *g*

  3. Ehrlich gesagt, habe ich beim Lesen da noch nie drauf geachtet. Okay, es gibt manche Bücher, in denen man vom Autor direkt angesprochen wird, da merke sogar ich das – besonders gern bei eher witzigen Kinderbüchern. Das mag ich gerne, jedenfalls wenn es so sympathisch rüberkommt wie z.B. bei Erich Kästner. Ungern erinnere ich mich allerdings an die "unfortunate events" oder wie das hieß, da drängte sich der Autor mir mit seinen bei mir nicht mal zündenden Witzchen derart auf, dass ich ihn als rumzappelndes ADHS-Kind im Kopf hatte. Brrr.

    Ansonsten – doch, jetzt gerade lese ich Steinbecks "Früchte des Zorns" und bin zwischendurch immer ganz hingerissen von gerade den Passagen, in denen er die Familie Joad für einen allgemeinen Exkurs in die Umstände der Zeit verlässt. Überhaupt ist er längst nicht so nah dran an seinen Figuren, beobachtet sie mehr von außen.

    Das finde ich hier toll, aber ich glaube, das ist auch echt eine Frage der Intention des Autors, und auch des Genres. Für einen Pageturner taugt eine rein personale Erzählweise einfach besser, weil man eben nah an den Figuren dran ist und mitfiebert. Das spricht also besonders die Gefühle an. Sobald man mehr will als seine Leser gefühlsmäßig mitzureißen, ist ein Wechsel der Erzählperspektive vermutlich eine gute Idee, weil das den Leser eben aus der Gefühlsebene rausholt und zum Mit- und Nachdenken animiert …
    Könnte das sein? Ist gerade so eine spontane Idee …

    1. Ja, es ist wohl auf jeden Fall eine Genrefrage. Ich hatte jetzt in erster Linie auch Fantasy im Kopf (das hätte ich vielleicht auch dazuschreiben sollen) und da scheint die auktoriale Perspektive allmählich auszusterben. Zumindest kommt sie mir eher in älteren Romanen unter als in neueren.

      Sobald es eher in die literarische Richtung geht, sieht die Sache gleich wieder anders aus – vermutlich, weil da Mitfiebern selten die erste Intention der Autoren ist.

  4. Beim Lesen denke ich gar nicht so bewusst an die verwendete Erzählperspektive oder bilde mir da sofort eine Meinung. Es muss für mich einfach intuitiv zur Geschichte passen.

    Wahrscheinlich sehen Leute, die sich stark mit Literatur beschäftigen und/oder sie studieren, das anders, aber im Grunde genommen will der "einfache" Leser doch einfach nur eine gut erzählte Geschichte lesen.

    Solange die Erzählperspektive zur Handlung passt und sie unterstützt, wird sich doch keiner daran stören.

    1. Mir ist es einfach schon ab und zu in Rezensionen aufgefallen, dass eine auktoriale oder halt nicht ganz strikt personale Perspektive bemängelt wurde, wobei ich jetzt nicht mehr sagen könnte, bei welchen Büchern genau.
      Aber dadurch ist bei mir der Eindruck entstanden, dass die auktoriale Perspektive nicht so beliebt ist, auch wenn manche es vielleicht nicht so genau in Worte fassen, dass es diese Art der Perspektive ist, die sie stört.

      Falls mich mein Eindruck da täuscht, fände ich es natürlich erfreulich.

  5. Ich liebe ja alle Christine Nöstlinger Bücher, von denen soweit ich mich erinnere, keines aus der Ich-Perspektive geschrieben ist. Jetzt ist der Deutsch LK allerdings so lange her, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, ob sie damit gleich aus der auktorialen Perspektive geschrieben sind… :p Distanz und Künstlichkeit habe ich aber in keinem ihrer Bücher gefunden.

    Dagegen fand ich es etwas schwierig, als Diana Gabaldon in den späteren Bänden der Highlander Serie auf einmal die Perspektive wechseln musste. Das erste Buch ist ja komplett aus Claires Sicht verfasst und von ihr erzählt. In späteren Bänden hat mich der Sprung in Jamies Gedanken dann etwas durcheinander gebracht, weil er vorher ja so still bleibt.

    1. Personale Perspektive heißt erst einmal nur, dass der Erzähler sozusagen aus dem Kopf einer bestimmten Figur erzählt – das kann sowohl in der 3. Person als auch der Ich-Perspektive sein. Ein Paradebeispiel für mehrere personale Erzähler ist eben das schon erwähnte "A Song of Ice and Fire" oder auch "Harry Potter" (von manchen ersten Kapiteln mal abgesehen). Und im Wesentlichen hatte ich bei meinem Beitrag auch den personalen Erzähler der 3. Person im Kopf, weniger einen Ich-Erzähler.

  6. Ich würde auch sagen, dass es immer stark vom einzelnen Text abhängt, welche Erzählsituation die "passende" ist – und natürlich von der Intention des Autors.

    Ich wundere mich ein bisschen, dass Leute wirklich einen Wechsel zwischen auktorialer und personaler Erzählperspektive als "falsch" ankreiden. Das passiert in der Literatur doch gar nicht so selten. Kann mich daran erinnern, wie schwierig das im Studium war, herauszufinden, ob eine bestimmte Passage "noch auktorial" oder "doch schon personal" ist.

    Davon abgesehen hat das System der drei Erzählperspektiven nach Stanzel zumindest in der Literaturwissenschaft eher einen altmodischen Beigeschmack. Hast du dich schon mal mit den Erzählperspektiven nach Genette (Stichwort: Fokalisisierung) befasst? Da geht es mehr darum, wer sieht – also durch wessen Augen das Geschehen erzählt wird. Das finde ich auch ganz spannend – und wenn man das miteinbezieht, wird klar, dass es auch viele Mischformen in der Erzählperspektive gibt.

    Auf jeden Fall finde ich nicht, dass auktorial vor vorneherein ein No-go ist. Stelle man sich doch mal Klassiker, die auch heute noch gern und mit großer Begeisterung gelesen werden, ohne auktorialen Erzähler vor …

  7. Hey,

    ich finde, dass man das gar nicht so sehr pauschalisieren kann. Ich habe gerade ganz stark darüber nachgedacht, welches Buch ich zuletzt in der auktorialen Perspektive gelesen habe und es fiel mir spntan gar keins ein, aber wenn ich es recht bedenke ist es bei meinem aktuellen so.
    Damit will ich aber auch sagen, dass es sicher nicht nur wichtig ist, in welcher Perspektive geschrieben wird, sondern vor allem wie die Figuren kreiert sind. Wenn sie sehr authentisch sind, zu spüren ist, dass der Schreiber viel Liebe hinein gesteckt hat, sie bis ins Detail ausgearbeitet hat, dann kann ich zu ihnen viel mehr Nähe aufbauen, als wenn sie einfach "nur" aus der Ich-Perspektive erzählt werden.
    Ich baue gerne Nähe zu den Charakteren auf, wobei manche ja auch extra so gestaltet sind, dass man Distanz zu ihnen wahrt.

    LG Nanni

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