Gegenwartsliteratur Rezensionen

Marco Balzano – Ich bleibe hier

 erschienen bei Diogenes

Trina wächst in Graun, einem malerischen Bergdorf im Vinschgau auf, doch für sie hat das Leben hier nichts idyllisches: Als Südtirol nach dem 1. Weltkrieg Italien zugesprochen wird, kann sie als deutschsprachige Lehrerin nur heimlich in Kellern und Scheunen unterrichten. Später wird sie vor die Wahl gestellt nach Deutschland auszuwandern oder als Bürger zweiter Klasse in Italien zu bleiben. Trina entscheidet sich fürs Bleiben – auch, als für einen Stausee das Dorf überflutet werden soll.

Das Cover das Buches zeigt ein bekanntes Motiv: den denkmalgeschützten Kirchturm von Graun, der wie ein Mahnmal aus dem Reschensee ragt. Die Pläne für die Stauung des Reschensees gab es bereits 1920, nach der Annexion Südtirols durch Italien, allerdings wurden diese immer wieder verworfen und verschoben, bis schließlich 1950 die Bewohner von Graun und Reschen ihre Häuser verlassen mussten. Der Mailänder Schriftsteller Marco Balzano erzählt die Geschichte dieser Dörfer aus der Sicht der Lehrerin Trina, die sich zusammen mit ihrem Mann Erich vergeblich gegen den Bau des Staudamms einsetzt. Zusammen mit Trina erleben wir auch das Leben in Südtirol unter der Herrschaft der italienischen Faschisten und die entbehrungsreichen Jahre des Zweiten Weltkriegs.

Mir war natürlich die Geschichte Südtirols in Grundzügen bekannt, aber es war trotzdem noch einmal etwas anderes, diese aus so persönlicher Sicht mitzuerleben. Balzano schildert sehr eindringlich auch die die Problematik von Sprache und Identität. Was bedeutet es, wenn auf einmal die eigene Sprache ausgemerzt werden soll, man sie nicht mehr lehren darf und amtliche Verordnungen auf einmal in einer fremden Sprache vorfindet? Auch die Zerissenheit der Dorfbewohner, die zwischen Hitler und Mussolini aufgerieben werden und in immer größeren Zahlen ihr Zuhause verlassen, wird in dem Roman thematisiert. Daneben spielt noch eine persönliche Tragödie von Trina eine Rolle, die ebenfalls stark mit der Situation in Graun verknüpft ist.

„Ich bleibe hier“ ist also nicht unbedingt leichte Lektüre und auch die Grundstimmung ist nicht gerade hoffnungsvoll, auch wenn Trina immer wieder zwischen Hoffnung und Resignation schwankt. Der eher nüchterne, unaufgeregte Schreibstil von Marco Balzano führt dazu, dass sich der Roman dennoch leicht lesen lässt. Da in dem knapp 300-Seiten langen Buch ein Zeitraum von etwa 30 Jahren abgedeckt wird, gibt es manchmal Zeitsprünge; manches wird auch eher skizzenhaft umrissen. Trotzdem bekommt man einen sehr guten Eindruck von den Ereignissen und von Trinas persönlicher Lebensgeschichte.

Ich fand den Roman erschütternd zu lesen, zugleich aber auch sehr fesselnd und informativ. Am Ende hatte ich das Gefühl, einiges über die Südtiroler Geschichte gelernt und zugleich auch erfahren zu haben, wie die Menschen in Graun diese Zeit erlebt haben. Ein sehr empfehlenswerter Roman, der für mich bereits zu den Lesehighlights dieses Jahres gehört.

Leave a Reply

Your email address will not be published.