Rezensionen Sachbuch

Ben Montgomery – Grandma Gatewood’s Walk

erschienen bei Chicago Review Press

Im Mai 1955 machte sich die 67jährige Emma Gatewood auf, um auf dem Appalachian Trail über 3000 Kilometer von Georgia nach Maine zu wandern. In einem selbstgenähten Sack, den sie sich über die Schulter warf, hatte sie das notwendigste dabei, wie etwa einen Duschvorhang, der ihr als Regenschutz und Notunterkunft diente. Anfangs wussten nicht einmal ihre Kinder und Enkelkinder, dass sie diese Wanderung machte; am Ende begleitete sie ein ständiger Medienrummel. Aber es gelang ihr – und das nicht nur einmal.

Die Geschichte von „Grandma“ Gatewood ist eine faszinierende und eine, die von einer unglaublichen Willensstärke erzählt. Emma wuchs mit 14 Geschwistern auf, bekam selbst 11 Kinder und wurde von ihrem Ehemann geschlagen. Er drohte ihr mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik und versuchte sogar sie ins Gefängnis zu bringen, aber es gelang ihr schließlich sich von ihm scheiden zu lassen in einer Zeit, in der das für eine Frau alles andere als einfach war. Als ihre Kinder alle erwachsen waren, las sie einen Artikel in der National Geographic über den Appalachian Trail, wo er als relativ einfach und mit Schutzhütten am Ende jeder Etappe beschrieben war. Der Weg wurde daraufhin für Emma zu einer fixen Idee, aber die Realität entpuppte sich als sehr anders als die Beschreibung: Sie musste sich durch Gebüsch schlagen, über Felsen klettern und fand nur selten Schutzhütten vor. Oft bat sie unterwegs bei Bauernhöfen um eine Schlafgelegenheit oder suchte sich (ohne Zelt und Schlafsack) einen geeigneten Platz in den Wäldern.

Trotz aller Widrigkeiten schlug sie sich bis zum Ende durch. Sie war die erste Frau, die den gesamten Appalachian Trail alleine durchwanderte – und sie schaffte es ein zweites Mal zwei Jahre später. Bis zu ihrem Tod 1973 bewältigte sie noch mehrere Weitwanderungen und sorgte durch ihre Erzählungen und das Medieninteresse maßgeblich dafür, dass der Appalachian Trail nicht nur an Bekanntheit gewann, sondern auch deutlich besser ausgebaut wurde.

Ich fand es sehr spannend von ihrem Leben und ihrer Wanderung zu lesen. Ihr erster „thru-hike“ 1955 nimmt natürlich den Großteil des Buches ein und ist sehr eindrücklich beschrieben. Es ist unglaublich, dass ihr die Wanderung in dem Alter und mit der minimalen Ausrüstung gelang. Ben Montgomery streut einerseits die Geschichte des Appalachian Trail und andererseits die Geschichte von Emmas Kindheit und Ehe zwischendurch ein, was mich manchmal ein wenig aus dem Lesefluss riss. Trotzdem funktionierte dieser Aufbau alles in allem gut. Abgerundet wird das Buch durch eine kurze Beschreibung ihrer weiteren Wanderungen und ihrer Wirkung auch noch über ihren Tod hinaus.

Man sollte für dieses Buch sicher ein grundsätzliches Interesse am Wandern und vielleicht auch ein bisschen Hintergrundwissen über die amerikanischen Weitwanderwege mitbringen. Ich persönlich habe die Lektüre sehr genossen und fand sie äußerst inspirierend. Emma Gatewood war eine bewundernswerte Frau, deren Leistung hoffentlich dank Ben Montgomery noch lange nicht vergessen wird.

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