erschienen bei Luchterhand
Als Dora in Bracken, einem kleinen Dorf in Brandenburg, ein heruntergekommenes Haus kauft, hat sie dabei ein künftiges Wochenenddomizil mit ihrem Freund Robert im Kopf. Doch dann steht im März 2020 auf einmal die Welt Kopf und die Beziehung mit Robert hält der Belastungsprobe im Lockdown nicht stand. Fluchtartig verlässt Dora Berlin und zieht mit ihrem Hund nach Bracken – in ein kaum eingerichtetes Haus mit verwildertem Garten und einem Neonazi als Nachbar. Aber in der Einöde ist es kaum möglich den wenigen Menschen aus dem Weg zu gehen und so muss Dora sich mit Ansichten auseinandersetzen, die sie bisher gemieden hat.
In den letzten Jahren habe ich mich stets begeistert auf die neuen Romane von Juli Zeh gestürzt und so kaufte ich mir auch „Über Menschen“, kaum dass es erschienen war. Der Titel sowie der Schauplatz ließen mich an „Unterleuten“ denken, das eines meiner Lesehighlights des Jahres 2017 war.
Besonders beeindrucken mich bei Juli Zeh immer ihre Beobachtungsgabe und die Aktualität ihrer Themen. In dieser Hinsicht bildet auch der neue Roman keine Ausnahme. Wie die Autorin in diversen Interviews erzählte, stand die erste Fassung des Romans bereits, als Corona auf einmal unser aller Leben bestimmte. Da „Über Menschen“ so klar in unserer unmittelbaren Gegenwart angesiedelt ist (so wird etwa auch Greta Thunberg erwähnt), kam es Juli Zeh falsch vor, Corona darin nicht zu thematisieren und so arbeitete sie ihren Roman noch einmal entsprechend um. Mit Erfolg, wie ich finde, denn das Thema bildet einen passenden Hintergrund, der natürlich auch Doras Leben beeinflusst, ohne dabei aber eine zu dominante Rolle einzunehmen.
Auch sonst zeigt Juli Zeh wieder ihren bemerkenswerten Blick für Details – bei vielem, was Dora erlebt und denkt, fühlte ich mich direkt angesprochen, manches Mal auch unangenehm ertappt. Gepaart mit ihrem flüssigen, klaren Schreibstil fühlte ich mich daher sofort in die Geschichte hineingezogen und dachte zunächst, dass dieses Buch zu einem weiteren Liebling von mir werden würde. Aber dann wurde das zentrale Thema für mich immer problematischer, fühlte ich mich immer unbehaglicher.
Hauptthema ist nämlich, wie Dora damit umgeht, dass sie in Bracken auf einmal mit politischen Ansichten konfrontiert wird, die im Gegensatz zu ihren eigenen stehen und denen sie bisher auch immer ausgewichen ist. Ich fand es zuerst gut, wie Juli Zeh auf schwarz-weiß-Zeichnung verzichtet und Dora vor das Dilemma stellt, dass ihr Nachbar Gote sie einerseits unterstützt, andererseits aber mit seinen Ansichten tiefrechts angesiedelt ist. Ich erwartete mir interessante Konflikte und Erkenntnisse von beiden Seiten.
Stattdessen kam es mir aber mehr und mehr vor, dass es alleine Dora war, deren Denkweise und vermeintlich moralische Überlegenheit hier vorgeführt werden sollten. Es ist ja schön, dass Juli Zeh für einen Dialog und Aufeinanderzugehen plädiert, aber Gote ist nicht einfach nur ein AfD-Protestwähler, sondern schreckt auch vor Gewalt nicht zurück und singt mit seinen Kumpels im Garten das Horst-Wessel-Lied. Und es ist traurig, dass Dora zwar zu der Erkenntnis kommt, dass es in der Anonymität der Großstadt leichter ist, sich erst gar nicht mit solchen Menschen zu umgeben als in einem kleinen Dorf, dabei aber nicht erkennt, dass sie Gotes Hass nur deshalb „tolerieren“ kann, weil er sich nicht gegen sie richtet. Diesen Luxus hat z.B. das homosexuelle Pärchen im Dorf nicht und diese können sich Gote auch nur deshalb vom Hals halten, da sie ihm umgekehrt mit ihren wehrhaften Freunden drohen. Was, wenn sie diese Freunde nicht hätten? Wenn nicht das restliche Dorf hinter ihnen stehen würde? Zwar versucht Dora ein paarmal Gote mit seinen rechtsnationalen Ansichten zu konfrontieren, aber irgendwie ist immer sie diejenige, die dabei engstirnig wirkt.
Ich habe „Über Menschen“ trotz allem interessant zu lesen gefunden und häufig legt Juli Zeh ihren Finger auch sehr treffend auf manche Wunden. Dennoch begann ich mich mehr und mehr zu fragen, was eigentlich die Aussage des Buches sein sollte. Dass es wichtig ist, Toleranz gegenüber Menschen zu zeigen, die selbst anderen diese Toleranz verweigern? Dass man anderen ihre Meinung lassen soll, selbst wenn dabei andere zu Schaden kommen und es somit über reine persönliche Meinung hinausgeht? Es hat mich noch zusätzlich enttäuscht, dass die Autorin Dora letztendlich einen recht einfachen Ausweg aus dem Dilemma bietet.
Wenn ich mir die Rezensionen zu diesem Roman so anschaue, stehe ich mit meiner Meinung zwar nicht unbedingt alleine auf weiter Flur, die kritischen Stimmung sind aber doch deutlich in der Minderheit. Und tatsächlich scheinen viele aus dem Roman herauszulesen, wie wichtig gelebte Toleranz wäre. Daher stellte ich mir beim Lesen dieser Rezensionen noch einmal die Frage: Soll es tatsächlich wichtiger sein, Neonazis gegenüber tolerant zu sein als Toleranz von den Neonazis anderen gegenüber (seien es nun Homosexuelle oder Migranten) einzufordern? Was ist das für eine verquere Botschaft? Oder habe ich diesen Roman einfach falsch verstanden?
Wenn jemand von euch „Über Menschen“ gelesen hat oder künftig lesen möchte, würde mich sehr interessieren, wie eure Meinung zu dem Buch ist.