Phantastisch Rezensionen

Jo Walton – In einer anderen Welt

Genre: Phantastischer Roman
Seiten: 300
Verlag: Golkonda
ISBN: 978-3942396752
aus dem Englischen übersetzt von Hannes Riffel 
Meine Bewertung: 4 von 5 Sternchen


Die 15jährige Morwenna flieht nach einem Unfall, für den sie ihre Mutter verantwortlich macht, zu ihrem Vater, den sie nie richtig kennengelernt hat. Dieser schickt sie in ein Internat, wo Morwenna sich völlig fehl am Platz vorkommt: Sie ist als Waliserin nicht nur eine Außenseiterin unter all den englischen Mädchen, sondern kann wegen einer Beinverletzung auch nicht am täglich stattfindenden Sportunterricht teilnehmen. So verbringt sie diese Zeit in der Schulbibliothek, wo sie in andere Welten entflieht – in ihre geliebten Fantasy- und Science Fiction-Romane, die ihr in ihrer schwierigen Situation einen gewissen Halt geben.
„In einer anderen Welt“ ist nicht nur eine Liebeserklärung an das Lesen, sondern auch ein Roman, in dem eine gewisse Nostalgie an die Jugendzeit in den späten 70er Jahren mitschwingt. Soweit ich (als Teenager der 90er Jahre) das beurteilen kann, hat die Autorin die Atmosphäre jener Zeit wunderbar eingefangen und es macht Spaß, Morwennas Alltag mitzuerleben, in dem Bücher eine unglaublich wichtige Rolle spielen. Morwenna, genannt Mori, verschlingt ein Buch nach dem anderen und reflektiert über ihre Lektüre in dem Roman, der in Tagebuchform geschrieben ist. Sie liest sich durch die Schulbibliothek und deckt sich jeden Samstag in der nahen Stadt mit Büchern ein – zunächst in Buchhandlungen und der örtlichen Bücherei und schließlich auch über die Fernleihe, die sie ausgiebig und begeistert nutzt.
Moris Liebe gilt nicht nur der klassischen Fantasy wie „Herr der Ringe“ und „Narnia“, sondern vor allem der Science Fiction. Sie liest sich durch Heinlein, Delany, Zelazny und LeGuin, wagt sich aber mit Platon und Hardy auch an Genres abseits der Phantastik heran.
Moris Begeisterung, mit der sie ein Buch nach dem anderen verschlingt und mit der sie sich auf das gesamte Repertoire mancher Autoren stürzt, hat mich an mein eigenes Leseverhalten in diesem Alter erinnert und ich denke, dass sich so ziemlich jede Leseratte mit ihr identifizieren kann.
Aber es geht in dem Roman nicht nur um Bücher, sondern auch um Magie. Jo Walton zeichnet darin das Bild einer verwirrenden, beängstigenden Magie, die nicht aus Regeln und Zaubersprüchen besteht, sondern ganz unterschiedliche Formen annehmen kann und manchmal nur schwer zu erkennen ist. Das gilt auch für die Feen, die für Mori in Wales ständig präsent waren, während sie die rätselhaften Wesen rund um das Internat nur vereinzelt antrifft. Die Magie zeigt sich auch in Moris Mutter, einer mächtigen Hexe, die noch immer versucht, Kontrolle über ihre Tochter zu erlangen.
Gerade, weil Waltons Magie nur schwer greifbar ist, fand ich sie besonders faszinierend. Teilweise war ich mir nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um Magie handelt oder ob das alles nur Moris Fantasie entspringt. Diese Frage wird nicht endgültig aufgelöst und so kann das jede(r) beim Lesen für sich selbst beantworten. Meine eigene Interpretation geht dabei einen anderen Weg als offensichtlich von der Autorin gedacht (ich habe nach der Lektüre ein Interview mit ihr gelesen).
Und schließlich gibt es in „In einer anderen Welt“ auch noch eine dritte Ebene und zwar handelt es sich um einen klassischen „Coming of Age“-Roman. Mori wird allmählich erwachsen, sie entwickelt sich weiter, findet Freunde und verliebt sich auch zum ersten Mal (ohne dass es deshalb gleich um die eine große Liebe geht). Jo Walton schildert das alles sehr einfühlsam und nachvollziehbar und hat mit Mori auch eine sehr vielschichtige Figur geschaffen.
Trotzdem hat das Buch für mich auch einige Schwächen. So empfand ich gerade am Anfang die Tagebuchform eher als bremsend, auch wenn ich mich im Laufe des Romans besser hineingefunden habe. Zudem wird auf den Unfall, der zu Moris Verletzung und dem Tod ihrer Zwillingsschwester geführt hat, nie wirklich genauer eingegangen. Ich hatte mir bis zum etwas überstürzten Ende eine Art Auflösung erhofft, aber diese bekommt man nur zum Teil.
Leider fand ich außerdem die Übersetzung stellenweise etwas holprig, weshalb ich das Buch eher im Original empfehlen würde (mir ist die deutsche Ausgabe in der Bücherei in die Hände gefallen). Wenn im Englischen Mori ihre Tanten liebevoll „Auntie“ nennt, lässt sich das im Deutschen nicht wirklich mit „Tantchen“ übersetzen, das für mich eher einen spöttischen oder sogar verächtlichen Beiklang hat.
Abgesehen von den Kritikpunkten habe ich aber „In einer anderen Welt“ sehr genossen. Es ist einmal ein ganz anderer Roman, der sich gar nicht wirklich in ein Genre einordnen lässt und gerade auch deshalb etwas besonderes ist. All die Bezüge auf Bücher darin machen wirklich Spaß, wobei ich nur wenige der genannten Romane gelesen habe. Das hat dem Lesevergnügen nicht geschadet, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass man noch mehr von dem Roman hat, wenn man mit den Bezügen konkret etwas anfangen kann. Auf alle Fälle hat Jo Walton mich nun auf einige Science Fiction-Romane neugierig gemacht, obwohl das sonst gar nicht so mein Genre ist. Dank der Leseliste (hier auf Englisch und hier auf Deutsch) könnte man übrigens auch sämtliche Bücher nachlesen, die Morwenna in „In einer anderen Welt“ liest und erwähnt.

8 thoughts on “Jo Walton – In einer anderen Welt

  1. Morwenna und ich scheinen den gleichen Buchgeschmack zu haben. Und auch sonst klingt es gut, was du so schreibst. Ich glaube, danach halte ich mal die Augen auf. 🙂

    1. Dann ist der Roman sicher für dich zu empfehlen – ich denke, dass die Lektüre gleich noch schöner ist, wenn man auch mehr von den Büchern kennt, die Morwenna darin liest.

  2. Hoi, Neyasha.
    Der Name der Autorin wie der Buchtitel sind, neben der ebigen Lektüre Deiner Anmerkungen, auf meine Bestelliste gewandert. Eine Waliserin in der der englischen Fremde, ließ mich bereit aufhorchen. Literatur als eigen eingeschlagener Weg zu einer Therapie, aufmerken. Mit der Erwähnung vob SF & F wurde die Sache fix: Ein Buch für mich!
    Merci für den Hinweis. 🙂

    Von den Genre-Meistern Brunner, Dick (ausnähmlich vielleicht seine Valis-Trilogie) oder Silverberg könnte ich Dir jeden Roman, jede Story-Sammlung anempfehlen. "Lobgesang auf Leibowitz" nicht weniger.
    Ich denke, am anmerkenswertesten könnte Dir das Ceuvre von James Tiptree jr, alias Alice B. Sheldon, erscheinen.

    Bevor jetzt das Genre mit mir durchgeht… 😉

    bonté

    1. Ich hoffe, dass dir das Buch gefällt – scheint ja, als wäre das wirklich wie für dich geschaffen.
      Danke für die Empfehlungen. Ich fühle mich eh gerade etwas erschlagen von den vielen Büchern, die bei Walton vorkommen. Ich glaube, "Lobgesang auf Leibowitz" wurde darin auch öfter mal erwähnt.

  3. Klingt nach 'nem Buch für mich 🙂
    Danke für deine Buchempfehlungen, die immer etwas anders sind, als auf den meisten anderen Blogs!

    Liebe Grüße
    eine stille Leserin <3

    1. Es freut mich sehr, dass du das schreibst. Wenn jemand hier auf Bücher aufmerksam wird, die anderswo vielleicht wenig besprochen werden, sind das so die Momente, für die sich das Bloggen absolut lohnt (mal davon abgesehen, dass es mir ja auch Spaß macht). 🙂

  4. Hast Du ihn also doch endlich gelesen 😉 Mir hat er ja wahnsinnig gut gefallen, wenn ich auch nie auf die Übersetzung achte – es sei denn man kommt gar nicht vorwärts. Einer der wenigen Behaltis in meinem Regal.
    Wirst Du ihn auch später noch einmal lesen?

    1. Vielleicht werde ich ihn nochmal lesen, nachdem ich mich etwas besser in die Science Fiction eingelesen habe – damit ich dann auch mehr mit den darin erwähnten Büchern anfangen kann. Aber das hängt auch davon ab, ob er mir in der Bücherei mal wieder unterkommt. Oder ich gönn mir noch die englische Fassung und les die dann irgendwann nochmal.

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