Erzählungen Rezensionen

Samuel J. Agnon – In der Mitte ihres Lebens

erschienen bei Suhrkamp
übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerold Necker 

woher: Städtische Büchereien (Onleihe)

Nobelpreis-Challenge

Nach dem Tod ihrer Mutter ist die junge Tirza auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und in einer Gesellschaft, die im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne steht. Tirza taucht ein in die Vergangenheit ihrer Mutter und erfährt von einer unglücklichen Liebe, die sich in ihrem eigenen Leben zu wiederholen scheint.
1921 erschien „In der Mitte ihres Lebens“ auf Hebräisch und 1966 erhielt Samuel Joseph Agnon zusammen mit Nelly Sachs den Literaturnobelpreis, aber trotzdem wurde der Roman erst im vergangenen Jahr erstmals ins Deutsche übersetzt.
Von der Handlung her fand ich die Erzählung eher uninteressant. Ich habe nach der Lektüre einige Rezensionen gelesen, in denen von der Selbstbestimmtheit Tirzas geschrieben wurde und ihrer selbstbewussten Auswahl ihres Bräutigams, aber ehrlich gesagt konnte ich persönlich das nicht aus „In der Mitte ihres Lebens“ herauslesen. Für mich entstand hier eher das Bild eines Mädchens, das sich so in die vermeintlich romantische Vergangenheit ihrer Mutter hineinsteigert, bis sie gewissermaßen sogar deren Gefühle zu ihren eigenen macht. Ich muss zugeben, dass ich zumindest inhaltlich nicht viel aus dem Buch für mich mitnehmen konnte.
Umso faszinierender fand ich dagegen die Sprache. Samuel Agnon bezieht sich hier mit seinem assoziativen Schreibstil manchmal wortwörtlich und manchmal nur in Metaphern auf die jüdische Literaturtradition und besonders auf das Alte Testament. Ohne die kommentierte Übersetzung von Gerold Necker wäre ich beim Lesen allerdings verloren gewesen. Nicht, weil ich den Text nicht verstanden hätte, sondern weil mir all diese Bezüge entgangen wären – und dabei sind sie es, die meiner Meinung nach das Besondere an dem Roman ausmachen.
An manchen Stellen konnte ich allerdings nicht nachvollziehen, weshalb Gerold Necker die Sätze auf die vorliegende Weise übersetzt hatte. In den Anmerkungen weist er einige Male auf die wortwörtliche Übersetzung hin und ich habe mich gefragt, weshalb er die hebräischen Sätze nicht auch genau so übersetzt hat. Hier sind einige Beispiele:
Und ein Geist von Traurigkeit schwebte über dem Mann wird zu aber etwas musste den Mann sehr bedrücken. (Anmerkung 36)
Barmherzige Traurigkeit wird zu lieb gewordener Trauer (Anmerkung 39)
Ich träumte einen Traum und mein Geist ist verstört wird zu Ich hatte einen furchteinflößenden Traum (Anmerkung 50)
Ich finde, dass diese Passagen wortwörtlich doch einen ganz anderen – deutlich poetischeren – Klang haben und zudem verweisen die Formulierungen wieder auf Bibelstellen, was sie also alles andere als beliebig macht. Dank der kommentierten Übersetzung bleibt diese Bedeutung wenigstens erhalten, aber ich konnte den Grund für die Änderungen schlichtweg nicht nachvollziehen.
Alles in allem war „In der Mitte ihres Lebens“ vor allem sprachlich eine sehr interessante Lektüre. Die ebook-Ausgabe hat sich hier als ideal erwiesen, da per Tippen die jeweilige Fußnote einfach in einem kleinen Fenster geöffnet wird, was sehr praktisch ist, wenn es derartig viele Anmerkungen gibt. Ich würde auch allen empfehlen, die Anmerkungen tatsächlich zu lesen, da einem ohne sie eine wichtige Komponente des Textes verschlossen bleibt (außer, man ist in der jüdisch-religiösen Literatur bewandert genug, um die Zusammenhänge selbst herstellen zu können).
Es lohnt sich bei dieser Erzählung wirklich, sie langsam zu lesen und sich tiefer mit ihr zu beschäftigen – auch wenn sie mir auf der rein inhaltlichen Ebene nicht viel mitgegeben hat.

4 thoughts on “Samuel J. Agnon – In der Mitte ihres Lebens

  1. Ich finde deine Annäherung auf der rein sprachlichen Ebene sehr interessant und behalte das Buch dahingehend mal im Auge. Auch, um mal die Möglichkeiten des Ebook-Readers auszutesten…die Fußnotenfunktion war mir bis dato auch unbekannt, was peinlich ist, ich nutze den Reader seit 4 Jahren.

    1. Ich weiß halt auch nicht, ob die Funktion bei jedem Reader gleich gut ausgeführt ist. Bei meinem Kobo klappt es auf jeden Fall prima und bei den Kindles funktioniert das auch tadellos. Aber mein alter Sony hat sich in dem Punkt nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert …

  2. Ich kann die Änderungen auch gar nicht nachvollziehen, die wortwörtlichen Übersetzungen klingen doch deutlich schöner… Würde ich ja gerne mal wissen, warum das so umgeändert worden ist.

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