Die Erzählung war sehr flüssig zu lesen und über weite Strecken auch sehr spannend. Henrik Pontoppidan hat zudem seine Figuren gut ausgearbeitet und man merkt schnell, dass sie vielschichtiger sind als es zunächst den Anschein hat. So ist bei Frau van Decken nachvollziehbar, weshalb sie so ein schwieriger Mensch wurde, auch wenn sie das noch keineswegs sympathisch macht.
Abgesehen davon, dass mich „Rotkäppchen“ von Anfang an gefesselt hat und ich auch den Schreibstil als sehr angenehm empfunden habe, muss ich aber gestehen, dass ich für mich nur wenig aus dem Kurzroman mitgenommen habe. Mir kommt die Einstellung, die ihm zugrunde liegt, eher konservativ vor. So schwingt darin etwa die Aussage mit, dass eine Ehe tatsächlich für immer halten sollte, damit es auch für die Frau eine gewisse Sicherheit gibt. Das ist ein Aspekt, der für die damalige Zeit wohl auch bedacht werden musste, aber aus der heutigen Sicht betrachtet man das natürlich ein wenig anders. Henrik Pontoppidan bringt außerdem seine Kritik so sacht an, dass sie nicht wirklich zu weiterem Nachdenken anregt.
Für mich entstand letztendlich beim Lesen der Eindruck einer zwar spannenden, wenn auch eher belanglosen Erzählung, die man zwar gut zwischendurch lesen kann, die aber nicht unbedingt eine Bereicherung darstellt. Zumindest von einem Nobelpreisträger würde ich da schon etwas mehr erwarten.
Vielleicht versuche ich es noch einmal mit einem Roman von Henrik Pontoppidan, da mir sein Schreibstil an sich gefallen hat und es mich durchaus interessieren würde, wie im Vergleich die längeren Werke von ihm sind.
Dem Titel nach hätte ich jetzt gedacht, es würde sich um eine Adaption handeln. Ist die Episode, in der das vorkommt, denn tragend für die Geschichte?
Nein, nicht wirklich. Ich habe auch lange überlegt, ob ich etwas übersehe (irgendeine Metapher für den Wolf z.B.), aber ich kann beim besten Willen keinerlei Zusammenhang zum Märchen herstellen.
Ich frag mich immer, ob es für das Buch eigentlich ein Vorteil oder ein Nachteil ist, mit einem (bekannten) Titel zu werben, der bestimmte Assoziationen weckt, sie aber nicht erfüllt. Man kann damit bestimmt Leute erreichen, die sonst vielleicht nicht zum Buch gegriffen hätten. Allerdings kann man so auch Leute verlieren, eben weil sie bestimmte Assoziationen haben und sich deshalb vom Titel gar nicht angesprochen fühlen.
Ich sehe es – ähnlich wie ein Cover, das zum Kauf anregt, aber nicht zum Buch passt – eher als Nachteil. Auch deshalb, weil man dann bestimmte Erwartungen an das Buch hat und vielleicht enttäuscht ist, dass diese nicht erfüllt werden.
Allerdings kommt mir das Erscheinungsdatum (1900) schlicht zu früh vor für so einen "Marketingtrick".
Deshalb habe ich mich inzwischen noch durch einige Interpretationen auf Dänisch gewühlt und soweit ich diese verstanden habe, findet sich auch dort keine Erklärung für den Titel – nur einmal war so eine Andeutung von wegen, dass Frau van Decken einst so arglos in die Welt geblickt hat wie Rotkäppchen losgezogen ist. Nun ja … das ist für mich nun doch schon etwas weit um die Ecke gedacht.