Rezensionen Sachbuch

Nathaniel Philbrick – Im Herzen der See

 

Die abgebildete Hardcover-Ausgabe von Blessing ist nicht mehr erhältlich
Taschenbuch-Ausgabe erschienen bei Heyne
 
 
 
1819 verlässt der schon in die Jahre gekommene Walfänger „Essex“ den Hafen in Nantucket, um hoffentlich nach einer zweijährigen Reise mit kostbarem Walöl zurückzukehren. Doch in den Weiten des Pazifiks wird das Schiff von einem Wal gerammt und versenkt. Die Besatzungsmitglieder sind gezwungen, sich in den kleinen Walfangbooten mit nur wenig Wasser und Proviant auf den Weg nach Südamerika zu machen.
 
Nathaniel Philbrick schildert in diesem Sachbuch die Tragödie der Essex, die Herman Melville zu seinem berühmten Roman „Moby Dick“ inspirierte. Mir hat sehr gut gefallen, dass der Autor zunächst das Leben auf Nantucket schildert. Seine Beschreibungen der Insel sind nicht nur sehr bildhaft, sondern man bekommt auf diese Weise auch einen Eindruck vom gesellschaftlichen Hintergrund der Walfänger. Nantucket im 19. Jahrhundert bildete einen eigenen Mikrokosmos – eine ganz eigene Kultur und Lebensweise, die sich gänzlich um Seefahrt und Walfang dreht. Mir hat diese Einleitung direkt Lust darauf gemacht, mehr über Nantucket zu lesen.
 
Nach dieser allgemeinen Einführung nimmt Philbrick sich Zeit, um die Besatzung der Essex vorzustellen und den Beginn der Reise zu schildern. Das ist insofern wichtig, da das Beziehungsgeflecht zwischen den Besatzungsmitgliedern später ebenso eine Rolle spielt wie auch die Probleme, die bereits kurz nach dem Auslaufen aufgetreten sind. So verlor die Essex gleich zu Beginn zwei Boote bei einem Unwetter. Der eher demokratische Führungsstil des Kapitäns George Pollard führte außerdem mehrmals dazu, dass er entgegen seiner Überzeugung dem dominanten Ersten Maat Owen Chase nachgab. Dessen (falsche) Entscheidungen hatten leider schwere Folgen und waren wohl hauptverantwortlich für den Tod vieler Männer.
 
Die Essex startete im August 1819 von Nantucket, umrundete Kap Hoorn und wurde schließlich im November 1820 mitten im Pazifik zweimal von einem Pottwal gerammt. Der Autor schildert den Schock und die Fassungslosigkeit der Männer, als sie sich plötzlich ohne Schiff nur noch mit drei kleinen Walfangbooten mitten im Ozean wiederfinden, sehr eindrücklich. 
Da die Männer nicht (wie von Pollard vorgeschlagen) Kurs auf die relativ nahe gelegenen Gesellschaftsinseln nahmen, sondern sich wie von Chase vorgeschlagen zur Küste von Südamerika aufmachten, hatten sie nicht nur den Wind gegen sich, sondern auch eine Strecke von mehr als 4000 Kilometer zu bewältigen. Der Grund, weshalb Chase sich gegen die Gesellschaftsinseln aussprach, war, dass er dort Kannibalen vermutete. Es ist bittere Ironie, dass die Männer in den Booten schließlich aufgrund des Nahrungsmangels selbst dazu gezwungen waren, die Toten zu essen.
 
Man kann sich wohl vorstellen, dass das Sachbuch alleine aufgrund der Themen – Walfang, Schiffbruch und Kannibalismus als letzter Ausweg – keine ganz leichte Lektüre ist. Ich finde aber, dass der Autor mit den Themen sehr gut umgeht und alles eindrücklich schildert, ohne aber dabei zu sehr ins Detail zu gehen.
Seine Hauptquellen sind die Tagebücher und Niederschriften von Owen Chase und dem Schiffsjungen Thomas Nickerson. Chase veröffentlichte sein Buch zu den Vorfällen bereits ein Jahr nach dem Untergang der Essex, während Nickerson seine Erinnerungen erst deutlich später zu Papier brachte. Veröffentlicht wurden diese überhaupt erst 1984, wodurch einige von Chases Schilderungen in ein etwas anderes Licht gerückt wurden. Nathaniel Philbrick geht auch kurz auf die Diskrepanz zwischen seinen Hauptquellen ein.
 
Mir hat „Im Herzen der See“ sehr gut gefallen. Der Fahrt der Essex und dem Unglück werden genug Raum gegeben, aber Philbrick rundet sein Buch ebenso durch das einleitende Kapitel über Nantucket wie auch durch eine Schilderung des weiteren Lebens der Überlebenden ab. Der Autor hält meiner Meinung nach eine sehr gut Balance, um die Strapazen der Männer weder zu distanziert noch zu voyeuristisch zu schildern. Alles in allem ein sehr interessantes Buch über eine Tragödie, die zur Inspiration eines der bekanntesten Klassiker der Weltliteratur wurde.

9 thoughts on “Nathaniel Philbrick – Im Herzen der See

  1. Das klingt, als würde der Autor schon einige heftige Themen ansprechen. Aber es klingt auch nach einer faszinierenden Lektüre. Mal schauen, ob meine Bibliothek das im Bestand hat. 🙂

  2. Ahoi, Neyasha.
    Im Zeitfenster von Kreuzfahrt-Mengentourismus kommt einem nicht gleich der Gedanke, dass Seefahrt vor 200 Jahren noch Überlebenskampf war. Und selbst wenn die Meere einem gewogen waren, die Verhältnisse an Bord blieben tägliche Herausforderung. Die verklärten Idyllen der Seefahrt jener Tage kann man/frau dann auch eher unter Seemansgarn einordnen.

    Vermutlich war ein Wal, der sich seiner Jäger entledigt, eine Urerfahrung für eine christliche Gesellschaft, die sich gern mit der Attitüde des "Macht-euch-die Erde-Untertan" aufmachten Land & Elemente zu erobern.

    Darf ich vermuten, dass besagter Owen Chase sich in seinem Erlebnisbericht in ein brauchbares Licht rückte?! Wäre einem, der sich für den besseren Captain hält zuzutrauen.

    Im Grunde hatte sich der Walfang zu besagter Zeit bereits erledigt. Nicht nur, weil Petrolium das Tranöl ersetzte, sondern weil die Bestände damals bereits überfischt waren.

    Offensichtlich – schlauer sind wir in den zwei Jahrhunderten seither auch nicht geworden. Selbst moderne Kreuzfahrtschiffe sind vor eitlen Kapitänen nicht sicher…

    bonté

    1. Die Menschen von Nantucket konnten bis in die 1830er Jahre noch ganz gut vom Verkauf des Waltrans leben, aber danach hat sich die Einwohnerzahl der Insel tatsächlich auf etwa ein Zehntel verringert.

      Owen Chase hat auf jeden Fall in seinem Bericht einige Dinge ausgelassen oder etwas … anders interpretiert. 😉

  3. Das klingt absolut faszinierend! Dass Moby-Dick von der Essex inspiriert ist, war mir gar nicht so bewusst; zweimal von einem Wal gerammt zu werden ist aber auch Stoff für Legenden. Vor allem, wenn man dann freiwillig noch eine Odyssee hintendran hängt …
    Ist die Leseflaute damit beendet? 🙂

  4. Das Buch klingt, als wäre es nichts für schwache Nerven, aber lesenswert. So, wie du es schilderst, scheint der Wal gar kein großes Thema im Buch zu sein, oder verstehe ich das falsch?

    Vor einiger Zeit ist ein Film mit dem Namen Im Herzen der See rausgekommen. Der wird dann wohl auf diesem Buch basieren und nicht auf Moby Dick, wie ich dachte. Hast du ihn gesehen und könntest sagen, ob er dem Buch geracht wird?

    1. Ja, genau, dieses Buch bzw. der Untergang der Essex ist die Grundlage für den Film. Ich kenne ihn noch nicht, habe aber die DVD zuhause und werde sie mir wohl demnächst ansehen.

      Du meinst, ob der Wal, der das Schiff versenkt hat, kein großes Thema ist? Nun ja, nur in den Auswirkungen. Über diesen einen Wal an sich gibt es sonst nicht viel zu schreiben: Er hat das Schiff gerammt und damit war seine Rolle in dem Unglück auch schon wieder beendet. Aber Wale allgemein sind schon auch eins der zentralen Themen in dem Buch.

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