Gegenwartsliteratur Rezensionen

Juli Zeh – Neujahr

erschienen bei Luchterhand

 

Henning hat keinen Grund unglücklich zu sein. Er hat einen guten Job, eine Frau, zwei kleine Kinder und genug Geld, um sich auch mal einen Silvesterurlaub mit seiner Familie auf Lanzarote leisten zu können. Und doch sind da seit einiger Zeit diese Panikattacken, die ihn unvorbereitet überfallen, das ständige Gefühl von Überfordertsein. Als er an Neujahr mit dem Fahrrad zum Bergdorf Femés hinauffährt, denkt er nicht nur über all das nach, sondern wird unvermutet auch in ein schreckliches Ereignis seiner Kindheit zurückgeworfen.

 

Juli Zeh schafft es meisterhaft, aktuelle Themen in leichtfüßig geschriebene Romane zu packen, die noch dazu ungemein spannend zu lesen sind. Während sie bei der Dystopie „Leere Herzen“ große politische Themen anspricht, bewegt sie sich mit Neujahr in einem kleinen, familären Kreis. Die Rahmenhandlung des Romans umfasst im Wesentlichen nur die Fahrt von Henning hinauf nach Femés; alles andere findet in seinen Gedanken und in Rückblicken statt. Im Mittelpunkt steht dabei Hennings Überforderung, die es vor den Augen der Gesellschaft eigentlich nicht geben darf, und auch seine Frau wirft ihm irgendwann entgegen „Reiß dich doch einfach zusammen“. Auch er selbst hat das Gefühl, diese Überforderung nicht empfinden zu dürfen, glücklich sein zu müssen. Aber trotz seines vermeintlich perfekten Lebens zerreißt es ihn in dem Versuch, alle Rollen perfekt auszufüllen: die des Ehemanns, des Familienvaters, des Verlagslektoren, des „modernen Mannes“. Mit der üblichen scharfen Beobachtungsgabe beschreibt die Autorin Hennings Leben und seine Gedanken.

Daneben gibt es in dem Roman aber noch eine weitere Ebene: die des packenden Psychothrillers. Der Rückblick in Hennings Kindheit ist spannend, beängstigend, albtraumhaft. Juli Zeh taucht sehr gut in die kindliche Perspektive ein und schildert aus der Sicht des kleinen Jungen von einem Ereignis, das ihn tief traumatisiert, obwohl er sich als Erwachsener zunächst gar nicht mehr daran erinnern kann.

Wenn man sich die Kritiken zu diesem Roman (und auch anderen Büchern von Juli Zeh) ansieht, dann merkt man, dass sie die LeserInnen stark polarisiert. Liebe oder Hass – dazwischen scheint es nicht viel zu geben. Bei mir ist es eindeutig Liebe und diesen Roman würde ich als einen der stärksten von Juli Zeh bezeichnen. Er ist ungemein fesselnd und aufwühlend, beschreibt dabei aber auch sehr scharfsinnig und präzise die Ängste, mit denen Henning zu kämpfen hat. Von meiner Seite aus also eine klare Leseempfehlung.

2 thoughts on “Juli Zeh – Neujahr

  1. Sali, Neyasha.
    Nicht nur, daß wir unsere Rollen spielen müssen; heikel wird es, wenn das kleine Wort „Perfektion“ auftritt & Menschen sich daran abzuarbeiten beginnen. Wenn aber alles außenpoliert wird, was bleibt dann im Inneren zurück? Leere? Inhaltslosigkeit?
    Ich denke es sollte Menschen wichtig bleiben, ob sie noch sie selber sein können, oder einzig dafür leben anderen Erwartungen zu entsprechen. So besehen dürfen wir wohl auch das Gegenteil von Perfekt sein – Ich sein.
    Vermutlich fühlten sich die Ablehner des Romans an manchen Stellen dann eher ertappt… 😉
    bonté

    1. Ja, ich denke, dass Juli Zeh da für einige durchaus einen wunden Punkt anrührt, den sie lieber ignorieren wollen – auch wenn das nicht zwangsläufig der Grund sein muss, weshalb einem der Roman nicht gefällt.

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