erschienen bei Guggolz
Die elfjährige Siss wohnt in einem kleinen norwegischen Dorf und ist in ihrer Klasse die Anführerin, zu der die anderen aufschauen. Nur Unn, die nach dem Tod ihrer Eltern ins Dorf gekommen ist, um bei ihrer Tante zu leben, hat kein Interesse an Siss und den anderen Mädchen. Bis sie schließlich Siss zu sich einlädt und sich eine erste zarte Freundschaft entwickelt. Doch unmittelbar darauf verschwindet Unn spurlos und Siss muss versuchen, mit diesem Verlust klarzukommen.
Tarjei Vesaas, 1897 in der Telemark geboren, war einer der bekanntesten norwegischen Schriftsteller und wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Diesen hat er zwar nie erhalten, dafür aber 1964 den Preis des Nordischen Rats, den wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens, für „Das Eis-Schloss“. In Norwegen gehört dieser Roman zur Schullektüre, aber bei uns war er nahezu vergessen, bis 2019 eine Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschien.
Bei dem titelgebenden Eis-Schloss handelt es sich um einen gefrorenen Wasserfall, der ein faszinierendes Gebilde aus Türmen, Gängen und Kammern bildet und Unn in seinen Bann zieht. Alle ahnen, dass Unn irgendwo beim Eis-Schloss verschwunden ist, aber weshalb sie hier war und was genau passiert ist, weiß niemand. Siss, die am Abend zuvor bei ihr war und dabei von Unn die Andeutung eines Geheimnisses erfahren hat, steht auf einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit: Weiß sie etwas? Was hat Unn ihr erzählt?
Die drängenden Fragen, die Trauer um den Verlust, aber auch das Gefühl, sie müsste ein Geheimnis bewahren – das alles wird für Siss zuviel und sie isoliert sich von den anderen Kindern, verliert sich ganz in der Erinnerung an Unn.
Tarjei Vesaas bleibt in seiner Erzählung die meiste Zeit ganz dicht an Siss und taucht tief in ihre Gefühle und ihre Gedankenwelt ein. Daneben beschreibt er auch, wie die Dorfgemeinschaft mit dem Verlust und mit Siss‘ Trauer umgeht. Das sehr anschaulich beschriebene Eis-Schloss dient dabei natürlich auch als Metapher für die Isolation und innere Kälte von Siss, in der sie sich gefangen fühlt. Dementsprechend kann sie auch erst dann allmählich wieder in ihr Leben zurückfinden, als im Frühling das Eis-Schloss zu schmelzen beginnt und einstürzt.
Ich fand „Das Eis-Schloss“ sehr interessant zu lesen. Es ist eine sehr symbolreiche Geschichte in einer klaren Sprache, die sowohl die eisige Kälte des Winters als auch die innere Kälte in Siss perfekt einfängt. Obwohl der Schreibstil so schnörkellos und präzise ist, wirkt er wie Poesie und schlichte Handlung erlaubt es auch, dass man sich beim Lesen ganz auf die Sprache einlässt. Womit ich nicht sagen möchte, dass die eigentliche Handlung uninteressant wäre, denn das ist sie ganz und gar nicht. Ich fand es sehr spanennd, von der beginnenden Freundschaft der Mädchen, dem Verschwinden von Unn und dem Umgang von Siss mit dem Verlust zu lesen. Dass dieser Roman in Norwegen als Klassiker gilt, wundert mich keineswegs. Schön, dass er jetzt auch auf Deutsch in einer neuen Ausgabe vorliegt!
Es ist total spannend, dass du sehr oft Bücher mit für mich eher unansprechenden Covern (Covers?) liest. 😀 Die Handlung hört sich aber auch hier wieder total interessant an. Ich hatte bisher noch gar nichts von dem Buch mitbekommen.
Witzigerweise war das Cover mit ein Grund, weshalb ich das Buch gekauft habe. Es lässt sich aber auf dem Bild auch nur schwer einfangen, wie hübsch das Buch gestaltet ist (mit einem leinenartigen Einband und einem Farbton zwischen Grau und Lila). Ich mag außerdem schlichte Cover sehr gern.
Unabhängig vom Äußeren ist es ein sehr interessantes Buch.