erschienen bei Carlsen
London 1940: Nacht für Nacht heulen die Sirenen und die Menschen suchen Schutz in den U-Bahntunneln. Unter ihnen auch die vierzehnjährige Ella und ihr kleiner Bruder Robbie, die sich jeden Tag anstellen müssen, um Plätze für sich und ihre Familie zu sichern. Dabei lernen sie Jay kennen, der sich ganze alleine durchschlägt, und Quinn, die aus ihrem reichen, behüteten Leben ausgebrochen ist, um als Krankenschwester zur arbeiten. Allmählich wachsen diese vier zu einer Gemeinschaft zusammen – aber schon zu Beginn erfahren wir, dass nur drei von ihnen die Bomben überleben werden.
„Nächte im Tunnel“ ist ein sehr intensiver Jugendroman, der auf etwas mehr als 200 Seiten eine unglaubliche Fülle an Themen anspricht und es tatsächlich schafft, jedem davon genug Raum zu geben. Aus Ellas Sicht erleben wir den schwierigen Alltag der Menschen während des Londoner „Blitz“, der Angriffe der deutschen Luftwaffe zwischen September 1940 und Mai 1941. Über 100.000 Menschen verbrachten in dieser Zeit die Nächte in den U-Bahntunneln, zusammengepfercht und ohne Privatspähre und auch hier nicht immer vor Bombeneinschlägen geschützt.
Für Ella sind diese Nächte besonders schwierig, da sie gerade erst Polio überlebt hat und die Enge und Dunkelheit in den Tunneln sie an die Eiserne Lunge erinnern. Anna Woltz schildert Ellas Folgen der Polio-Erkrankung sehr eindringlich – die physischen ebenso wie die psychischen. Im Laufe des Romans lernt Ella besser damit umzugehen und auch mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dabei hilft ihr Quinn, die trotz aller Unterschiede bald eine enge Freundin von Ella wird. Zu Beginn kam mir Quinn als adelige Tochter, die aus der Enge ihres Elternhauses flüchtet, um in London als Krankenschwester zu arbeiten, etwas klischeehaft vor. Aber dieser Eindruck änderte sich bald, da Quinn sehr lebhaft und vielschichtig gezeichnet wird und schnell zu einer meiner Lieblingsfiguren wurde. Auch Jay als gewiefter Einzelgänger, der aus der Not anderer Menschen Kapital zu schlagen versucht, gewinnt im Laufe des Romans mehr Facetten hinzu.
Der Roman lebt also neben den eindringlichen Beschreibungen vor allem von den sorgfältig gezeichneten Figuren und ihren jeweiligen Ängsten, Sorgen und Hoffnungen. Alle machen eine deutliche Entwicklung durch, was auch stimmig ist, da die Situation sie dazu zwingt schnell erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Es handelt sich daher auch um einen Coming-of-Age Roman, da Ella neben allem anderen auch mit den alltäglichen Themen einer Jugendlichen beschäftigt ist: Freundschaft, erste Liebe, Sexualität und Unsicherheit mit dem eigenen Körper (letzteres hat bei ihr besonderes Gewicht, da sie darunter .
„Nächte im Tunnel“ ist ein sehr intensiver Roman über das Erwachsenwerden im Krieg. Trotz der traurigen Thematik ist er sehr warmherzig und behält stets ein Gefühl der Hoffnung bei. Anna Woltz behandelt die schwierigen Themen, die sie darin anspricht, sehr sensibel und angemessen für jugendliche Leserinnen und Leser. Dank des einfachen Schreibstils lässt sich der Roman zudem flüssig und schnell lesen. Eines meiner Lesehighlights dieses Jahres!