erschienen bei Urachhaus
Wien 1933: In der Luftbadgasse im 6. Bezirk feiern der Hausbesitzer Hodl und seine Frau goldene Hochzeit. Rund um dieses Ereignis bekommen wir einen Einblick in das Leben der sehr unterschiedlichen Menschen, die hier unter einem Dach wohnen: eine Kassierin, die unvermittelt wieder auf ihre Jugendliebe trifft, eine alternde Operndiva, die einen begabten Geiger unter ihre Fittiche nehmen möchte, zwei verarmte ehemalige Gräfinnen, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen und ein jüdischer Tempelschreiber, dessen Enkel sich in Schwierigkeiten gebracht hat.
Die niederländische Autorin und Politikerin Marianne Philips (1886-1951) zog 1919 als eine der ersten Frauen für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in einen Gemeinderat ein. 1929 und 1930 erschienen ihre ersten beiden Romane „De wonderbare genezing“ und „De biecht“ („Die Beichte einer Nacht“). 1935 folgte schließlich „Bruiloft in Europa“, das damals unter dem Titel „Hochzeit in Europa“ auch auf Deutsch übersetzt wurde. Zum 70jährigen Jubiläum ihres Todes erschien bei Diogenes „Die Beichte einer Nacht“ in einer Übersetzung von Eva Schweikart, die 2023 auch „Hochzeit in Wien“ neu übersetzte.
Solche Wiederentdeckungen sind immer erfreulich – und im Fall dieses Romans ganz besonders. Ich habe ja ein gewisses Faible für episodenhafte Romane und mag das oft etwas behäbigere Erzähltempo von Klassikern. Die goldene Hochzeit des Ehepaars Hodl bildet hier die Rahmenhandlung, auch wenn die Feierlichkeiten selbst eher eine Nebenrolle spielen. Vielmehr wird dadurch lediglich ein Tag festgelegt, der einen schnappschussartigen Einblick in das Leben ganz unterschiedlicher Menschen bietet. Zusammengehalten werden sie alle durch das Zinshaus in der Luftbadgasse, wobei nur ein Teil der Handlung tatsächlich in diesem Haus stattfindet. Oft heften wir uns an die Fersen einzelner Figuren und folgen ihnen auf ihrem Weg durch Wien und darüber hinaus: Wenn etwa der Jude Meyer Jonathan zum Tempel unterwegs ist oder Fräulein Goldös als Hauptkassierin in einem traditionsreichen Kaufhaus arbeitet.
Anhand der einzelnen Handlungsstränge gibt die Geschichte interessante Einblicke in das Wien der dreißiger Jahre und bietet durch die so unterschiedlichen Figuren auch einen gewissen Querschnitt durch die Bevölkerung der Stadt. Am stärksten in der Zeit verankert ist die Episode rund um David, den Enkel von Meyer Jonathan, der er sich zusammen mit anderen Mitgliedern einer antifaschistischen Vereinigung in eine schwierige Situation bringt. Dieser Handlungsstrang enthält die meiste äußere Spannung, er beinhaltet eine ständige düstere Vorahnung und wirft als einziger auch die Schatten der Zeit voraus. Die weiteren Episoden sind eher leichtfüßig, mitunter humorvoll, was dem Roman auch einen gewissen Wohlfühlcharakter verleiht.
Zu den einzelnen Figuren fand ich schnell Zugang und so hätte ich von ihnen allen gerne noch mehr erfahren. Die Geschichten von David und von Rosita Goldös kommen noch am ehesten zu einem Abschluss, während sonst manches offen bleibt. Es handelt sich eben um eine Momentaufnahme und Ende des Tages verlassen wir die Figuren ebenso mitten in ihrem Leben, wie wir am Morgen darin eingetaucht sind. Das bedeutet nicht, dass das Ende unbefriedigend ist – ich fand es auch passend für den Roman. Aber ich hätte doch von vielen Schicksalen gerne mehr erfahren und konnte so am Ende von einigen nur schwer Abschied nehmen.
Fazit: Ein sehr ruhig erzählter Roman, der anhand einer Reihe von Einzelschicksalen einen guten Einblick in das Leben in Wien in den 30er Jahren gibt und mich in mancher Hinsicht an „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum erinnert. Unbedingt zu empfehlen, wenn man sich an einem etwas antiquierten Schreibstil nicht stört.
Oh, das klingt nach einer reizvollen Lektüre! Solch episodenhaften Geschichten finde ich eigentlich ganz nett und dass der Roman gerade zu dieser Zeit geschrieben wurde, macht ihn zu einem interessanten Zeitzeugnis. Ich glaube, ich packe das Hörbuch mal auf meine Merkliste – mit etwas altmodischer Erzählweise habe ich beim Hören oft etwas mehr Geduld und der Sprecher klingt bei der Hörprobe schon mal nicht schlecht.
Ich mag episodenhafte Geschichten auch gern und habe selbst gar nichts gegen eine altmodische Erzählweise, kann aber nachvollziehen, dass das nicht jedermanns Sache ist. Bei Hörbüchern habe ich auch öfter mehr Geduld mit einem Stil, der mir sonst vielleicht nicht so liegt.
Hi, vielleicht erinnerst du dich noch an mich, ich hab damals auch bei Milas „100 Bücher“-Challenge mitgemacht und nun mal geschaut, ob von der alten Cewq noch jemand bloggt. 🙂 Schön, dass du noch dabei bist! Ich hab meinen Blogspot-Blog eingestellt, weil ich nicht den Nerv hatte, mich mit der DSGVO zu beschäftigen, habe seit Kurzem aber bei Instagram wieder einen Buchaccount. Würde gern wieder bei dir mitlesen.
Liebe Grüße
Streifenzebra (aka Alex)
Natürlich erinnere ich mich noch! Wie schön von dir zu lesen. 🙂 Das mit der DSGVO kann ich verstehen – zu dem Zeitpunkt habe ich ebenfalls überlegt mit dem Bloggen aufzuhören.
Ich habe seit kurzem auch einen Instagram-Account, aber da geht es nicht um Bücher, sondern ums Wandern.
An die „100 Bücher“-Challenge muss ich manchmal voller Nostalgie denken. Das war damals so eine hohe Blog-Aktivität! 🙂