Gegenwartsliteratur Rezensionen

Annie Ernaux – Eine Frau

erschienen bei Suhrkamp

2022 erhielt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux den Literaturnobelpreis. „Eine Frau“ erschien 1987 und wurde 2019 vom Suhrkamp-Verlag in einer neuen Übersetzung von Sonja Finck herausgebracht. Das schmale Büchlein entstand nur wenige Tage nach dem Tod von Annie Ernauxs Mutter und kann als eine Art Nachruf auf diese betrachtet werden. Die Autorin schreibt darin über das Leben ihrer Mutter, die um die Jahrhundertwende geboren wurde und später unermüdlich als Ladenbesitzerin arbeitete, um ihren sozialen Status zu verbessern und ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Als Ernaux der erhoffte „Aufstieg“ gelingt, führt das aber zu Entfremdung und Distanz. Erst spät, als ihre Mutter an Demenz erkrankt, findet wieder eine Annäherung statt.

Annie Ernaux erschafft mit diesem Buch das interessante Porträt einer ambivalenten Frau. Es ist flüssig zu lesen, aber ich hatte trotzdem ein großes Problem damit: Ich fühlte mich sehr unbehaglich, die zwar liebevolle, aber auch schonungslose Beschreibung einer Frau zu lesen, die zu diesem literarischen Requiem, das noch dazu in so geringer zeitlicher Distanz zu ihrem Tod entstand, kein Einverständnis mehr geben konnte. Besonders, als schließlich auch ihre Krankheit und ihr Tod behandelt wurden, fand ich es zunehmend unangenehm, in die Privatsphäre einer Frau einzudringen, die zeit ihres Lebens einen solchen Wert auf Status und Außenwirkung legte.

Das ist jetzt gar nicht so sehr eine Kritik an speziell diesem Buch, sondern allgemein ein Problem, das ich mit biografischen Darstellungen dieser Art habe. Mir fällt da etwa als weiteres Beispiel „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger ein, das ich aus genau diesem Grund nicht lesen möchte. Und es überrascht mich ehrlich gesagt, wie wenig über diesen speziellen Aspekt bei Buchbesprechungen diskutiert wird. Bin ich die einzige, die das als problematisch empfindet? Meinungen dazu würden mich sehr interessieren.

Wenn man diesen Punkt außer Acht lässt, ist „Eine Frau“ eine gelungene Darstellung einer Mutter-Tochter-Beziehung, die zudem einen Blick in eine mittlerweile vergangene Welt wirft.

2 thoughts on “Annie Ernaux – Eine Frau

  1. Ich muss gestehen, dass ich über diesen Aspekt bei Biografien noch nicht nachgedacht habe. Aber ich lese auch kaum welche über Personen, die erst so kurze Zeit verstorben sind. Grundsätzlich wäre mein erste Impuls, dass die Person ja verstorben ist und diese Darstellung sie nicht mehr verletzen kann. Was ich aber problematisch finde, ist die Auswirkung einer solchen schonungslosen Beschreibung für diejenigen, die der Person nahestanden. Wie muss es sich für die Verwandten oder nahestehenden Freund*innen anfühlen, wenn solch ein Buch veröffentlicht wird …

    1. Ja, das war eben auch mein Gedanke. Annie Ernaux hat das Buch unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter geschrieben und veröffentlicht. Das ist für mich einfach etwas anderes als eine Biografie Jahre oder Jahrzehnte später, wenn auch die Verwandten und Nahestehenden nicht mehr leben.

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