Kinderbuch Rezensionen

Michelle Magorian – Goodnight Mister Tom

Genre: Kinderbuch
Seiten: 452
Verlag: Puffin Modern Classics
ISBN: 9780141964522
Meine Bewertung: 4,5 von 5 Sternchen

„Bücher, die man gelesen haben muss“-Challenge

 
Zu Beginn des 2. Weltkrieges werden ganze Scharen von Londoner Kindern aufs Land evakuiert. Eines dieser Kinder ist William Beech, der bei dem alten Einzelgänger Tom untergebracht wird. Aufgezogen von einer strengen Mutter, deren Vorstellungen von einem christlichen Leben vor allem Entbehrungen, Härte und Sünde bedeuten, erlebt William bei Mister Tom erstmals Liebe und Warmherzigkeit – und was es bedeutet, einfach Kind sein zu können.
 
Ich habe lange überlegt, wie ich „Goodnight Mister Tom“ bewerten und rezensieren soll. Der Roman hat – bei kritischer Betrachung – einige Schwächen, aber die meisten davon waren mir beim Lesen ziemlich egal. Denn Michelle Magorian hat mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt geschickt und mir vor allem in der ersten Hälfte des Buches mehrmals Tränen in die Augen getrieben.
Zu erleben, wie William, der in seinem ganzen Leben eigentlich noch nichts schönes erlebt hat, bei Tom zunächst völlig überwältigt von jeder kleinen Geste der Freundlichkeit ist, ist mehr als bewegend. Das beste daran ist aber die völlig unsentimentale Weise, wie das alles geschildert wird. Tom ist ein eher grummeliger Mann, der nicht die Arme über dem Kopf zusammenschlägt und ruft „ach, du armes Kind!“ oder sich in übertriebene Fürsorge stürzt. Er hat einfach nur sehr schlichte und praktische Vorstellungen davon, wie man ein Kind zu behandeln hat und kann es kaum fassen, dass es Menschen gibt, die Kinder mit dem Gürtel schlagen, von einem Jungen keinen Mucks hören wollen und alle Freuden als Sünde betrachten.
Man muss Tom einfach mögen und wenn er auf Wills Entschuldigungen, dass er ein Bettnässer ist, lediglich mit der pragmatischen Feststellung reagiert, das wäre mit seinem Hund früher ähnlich gewesen, dann möchte man ihn nur umarmen.
 
Das ist das besondere an dem Buch: zu beobachten, wie Will sich unter Toms Obhut verändert, seine ängstliche Schüchternheit verliert und beginnt, seine künstlerischen Talente zu entfalten. Äußerlich passiert nämlich die meiste Zeit kaum etwas, aber innerlich, da werden ganze Berge versetzt. Natürlich nicht nur in Will, sondern auch in Mister Tom, der sich dank des Jungen allmählich wieder in die Gemeinschaft des Dorfes eingliedert.
Abgesehen von den beiden gibt es auch noch sehr liebenswürdige Nebenfiguren, so etwa den quirligen Zach, der sich mit Will anfreundet und die Zwillingsmädchen Ginnie und Carrie. Außerdem schildert Michelle Magorian die Spiele und Unternehmungen der Kinder ganz wunderbar.
 
Ich habe oben geschrieben, dass mich vor allem die erste Hälfte sehr bewegt hat. Das bedeutet nicht, dass die zweite Hälfte des Buches schlecht wäre, aber die größten inneren Entwicklungen finden bereits bis zur Mitte statt. Danach verlagert sich der Fokus auch ein bisschen weg von Mister Tom und mehr hin zur Freundschaft zwischen Zach und Will. Zudem muss Will sich mit den Geistern seiner Vergangenheit auseinandersetzen und noch so einiges durchmachen. Im Zusammenhang damit finden sich auch ein paar der oben angesprochenen Schwächen: Es gibt ein paar Szenen, vor allem wenn es um Wills Mutter geht, die wirklich heftig sind und mich die Zielgruppe im Alter gedanklich gleich mal stark nach oben schrauben ließen. Gleichzeitig gibt es aber ein paar Handlungspunkte, die doch auf eine Art und Weise vereinfacht wirken, wie es eher in einem Kinderbuch der Fall ist. Und obwohl Michelle Magorian sich auf keine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung beschränkt, wirkt die ländliche Dorfgemeinschaft ab und zu ein wenig zu herzlich-idyllisch und die eine oder andere Nebenfigur etwas zu einseitig dargestellt.
 
Um schließlich noch kurz auf den Schreibstil zu kommen: „Goodnight Mister Tom“ ist eher schlicht und nüchtern geschrieben und oft werden die Empfindungen der Hauptfiguren nicht durch Innensicht deutlich, sondern durch die Schilderung ihrer Reaktionen, was ich insgesamt sehr gut gelungen fand. Wenn Will ganz bleich und starr wird und kein Wort herausbringt, dann muss man nicht „von innen“ miterleben, dass er von der Situation überfordert und eingeschüchtert ist, das wird auch so völlig klar.
Michelle Magorian schreibt weniger aus einer personalen Perspektive, sondern eher auktorial mit einem häufigen Eintauchen in die Köpfe der verschiedenen Figuren. Im Wesentlichen also die gängige Erzählperspektive etwas älterer Kinderbücher, auch wenn sich mittlerweile eher eine stark personale Perspektive durchgesetzt hat.
Zur Sprache möchte ich noch anmerken, dass es im Buch sehr viel Dialekt gibt. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, aber ich kam bald damit klar und ich bin ja nun nicht das große Englisch-Genie. Hier ein kleines Beispiel:
‘S’pose you’d best know where to put yer things,’ muttered Tom, looking up at the coat rack and then down at Willie. He scratched his head. ‘Bit ’igh fer you. I’d best put in a low peg.’
 
Als Fazit bleibt mir eigentlich nur zu sagen: Lest dieses Buch! Und falls ihr einen ebenso mauligen inneren Kritiker habt wie ich, der immer und überall mitliest, dann knüppelt ihn nieder und fesselt und knebelt ihn zumindest so lange, bis ihr „Goodnight Mister Tom“ gelesen habt.
Den Platz auf der Liste der 100 Bücher hat sich dieser Roman wirklich verdient – und ich bin mehr als froh, dass ich ihn auf diese Weise für mich entdeckt habe.

9 thoughts on “Michelle Magorian – Goodnight Mister Tom

  1. Oh, das Buch ist bislang komplett an mir vorbeigegangen und mir beim Studieren der Liste überhaupt nichts ins Auge gesprungen.

    Nach dieser liebevollen Rezension markiere ich das mal als "unbedingt lesen"-Titel. Ich mag klassische Kinderbücher und die von dir erwähnten Kritikpunkte sind für mich auch komplett tolerierbar. Ohje, ich will doch die Challenge nicht nur mit Kinderbüchern bestreiten!

  2. Winterkatze, so was Ähnliches hab ich mir auch grad gedacht. Ich hatte das Buch zwar gesehen, wegen des scheußlichen Covers bei Amazon aber nicht wirklich Lust drauf. Jetzt natürlich schon. 😉

    Bei mir ist eher das Problem, dass ich momentan NUR noch Bücher von der BBC-Liste lese, was einerseits natürlich gut für die Challenge (und das geplante Abarbeiten der kompletten Liste) ist, andererseits aber schlecht für meinen SuB, weil ich nur ein paar der Bücher bereits im Regal habe.

    Auf jeden Fall freue ich mich nach dieser tollen Rezension schon sehr auf das Buch, muss es nur noch irgendwo günstig auftreiben. Vielleicht sollten wir aus den selteneren Büchern der Liste ja Wanderbücher machen?

  3. @Ariana: Es gibt eine sehr hübsche französische Version (blöderweise beherrsche ich nur eine Handvoll französische Vokabeln :D).

    Du hattest dir die ganze Liste vorgenommen, oder? Ich beteilige mich ja nur an Milas Challenge und dann klappt es ganz gut mit einem Buch pro Monat und gibt genügend Luft für den SuB und andere Vorhaben. 😉

    Was die günstigen Ausgaben angeht, so finden sich diese Klassiker ganz gut in der Bibliothek oder als rechtefreie E-Book-Variante. Die Wanderbücher-Idee ist zwar nicht schlecht, aber dann käme wieder der Druck dazu, dass man das Buch ja zeitnah lesen muss, damit es weiterwandern kann.

  4. @Winterkatze: Ja, ich hab mir die ganze Liste vorgenommen. Ich glaube, es liegt eher daran, dass ich eine Listenleserin (geworden) bin. Die BBC-Liste hab ich ausgedruckt und online, hab geschaut, welche Bücher ich über Gutenberg oder in Bibliotheken bekomme etc. Da bin ich also voll drin, kann streichen und abhaken etc. Meinen SuB hab ich mir (noch) nicht ausgedruckt, da "sehe" ich also nicht, was alles drauf ist, und bin daher weniger "motiviert". Muss das wohl noch anders lösen. 😉

    Für mich wäre die Wanderbuch-Sache vergleichbar mit dem Ausleihen aus einer Bibliothek. Man könnte sich die Bücher ja auch 1:1 leihen, also nicht gleich an 5 Leute hintereinander … Ich kann das ja mal bei Mila auf der Seite vorschlagen, vielleicht hat ja wer Lust. Wobei ich momentan noch mehr als genug Lesestoff verfügbar habe. 😉

  5. Ich hoffe, euch beiden gefällt der Roman ebenso gut wie mir!
    Bei mir haben die Kinderbücher auch ein wenig Überhand genommen, zumal ich auch gern noch eins von dieser Jacqueline Wilson und "The Secret Garden" lesen möchte.

    Ein Wanderbuch wär eine tolle Sache – leider aber für mich nicht realisierbar, da ich von Österreich nach Deutschland über 10 Euro Versandkosten für ein Buch zahlen müsste. Und innerhalb von Österreich sinds auch einige Euro, das ist dann schon fast wieder der Betrag, den ich für ein englisches ebook zahle …

    Mich juckt es ja auch so ein wenig in den Fingern, die gesamte Liste zu lesen, aber da sich darauf doch so einige Bücher befinden, auf die ich gar keine Lust habe, wird daraus wohl eher nichts.

  6. @Ariana: Ach, wenn es daran liegt, dann solltest du vielleicht einfach den SuB ausdrucken und systematisch abarbeiten. 😀 Nach Liste lese ich immer widerwilliger, es gibt einfach beruflich zu oft Pflichttexte mit Blick auf irgendwelche Termine. Da halte ich das private Lesen lieber unverbindlicher. 🙂

    Den Vorschlag solltest du unbedingt machen! Es sind ja doch so einige Teilnehmer und zumindest innerhalb von Deutschland könnte das dem einen oder anderen helfen. 🙂

    @Neyasha: Ich hätte gerade große Lust gleich damit anzufangen, wenn ich ihn denn schon bei den Hand hätte. *g* Kinderbücher scheinen ja auch auf den ersten Blick machbarer zu sein, wenn als Alternative vielleicht ein 600-Seiten-Familiendrama herhalten muss. 😉

  7. Ich schließe mich den ersten beiden Kommentaren an: Dieses Buch ist mir auf der Liste überhaupt noch nicht aufgefallen! Jetzt werd ich mir das aber mal gaaanz fix bestellen! Klingt ja sooo schön 🙂 Danke.

  8. Ich hatte es dafür auch schon auf der "auf jeden Fall noch zu lesen"-Liste und fühle mich durch deine Rezension jetzt bestätigt, dass ich es mir auf jeden Fall bald besorgen werde. 🙂

  9. Mir sind ja damals, als ich die Liste durchgegangen bin, vier Bücher ins Auge gesprungen, von denen ich noch nie gehört hatte, die ich aber sofort auf meine "unbedingt lesen"-Liste gesetzt habe – dieses ist eins davon (zwei weitere hatte ich mit "Swallows and Amazons" sowie "I Capture the Castle" schon gelesen; fehlt nur noch "The Magus").

    Dass man dadurch Bücher entdeckt, von denen man sonst noch nie gehört hat (und wohl auch nicht mehr hören würde, da sie keine Neuerscheinungen sind), ist für mich eigentlich das schönste an der Challenge.
    Ich hoffe, euch gefällt der Roman auch!

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