Gegenwartsliteratur Rezensionen

Orhan Pamuk – Schnee


Genre: Gegenwartsliteratur
Seiten: 816
Verlag: Fischer Taschenbuch
ISBN: 978-3596510771
Meine Bewertung: 3 von 5 Sternchen

Ein Jahr mit Nobelpreisträgern

Der Dichter Ka reist in die Stadt Kars, um über die Selbstmorde einiger „Kopftuchmädchen“ zu berichten, die sich angeblich das Leben nahmen, weil man sie gezwungen hatte, das Kopftuch abzulegen. Vor allem aber hofft Ka, dass er hier auch seine frühe Liebe Ipek wiedersehen wird.
Dabei gerät er mitten hinein in die Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Anhängern eines säkularisierten Staates im Geist Atatürks – eine Auseinandersetzung, die bald eskaliert, während der Schnee das Städtchen Kars von der Außenwelt abschneidet.

„Schnee“ beginnt durchaus interessant mit Kas Ankunft in der Stadt, die sich bald als das reinste Wespennest entpuppt. In den Gesprächen, die der Dichter sowohl mit religiösen Fanatikern als auch mit überzeugten Atheisten führt (während beide Seiten um seine Gunst buhlen), werden spannende Fragen aufgeworfen und es zeigt sich bald, dass keine der Seiten einfach recht hat. So leicht macht Orhan Pamuk es weder seinem Protagonisten noch seinen Lesern. In seinem Kars spiegelt sich das ganze Dilemma der Türkei wider, zwischen dem Wunsch nach moderner „Verwestlichung“ und der Rückbesinnung auf alte Traditionen und einer stärkeren Religiosität gefangen zu sein. Die Isolation der Stadt von der Außenwelt durch den Schnee führt schließlich dazu, dass all die Konflikte völlig aus dem Ruder laufen.

Das ist thematisch an sich sehr spannend, aber das Hauptproblem des Romans ist, dass er zu lang ist: Die Diskussionen drehen sich immer wieder im Kreis und scheinen nirgendwohin zu führen. So stellte sich bei mir irgendwann selbst bei den interessantesten Gesprächen nur noch Langeweile ein.
Noch dazu finde ich, dass Pamuk sich mit einem Protagonisten wie Ka keinen Gefallen getan hat. Mir ist zwar klar, dass Kas Wankelmütigkeit, sein „Springen“ zwischen den Seiten und seine seltsame Gleichgültigkeit seine eigene innere Entwurzelung widerspiegeln sollen, aber ich hatte wirklich Probleme, einer solchen Figur so lange über die Schulter zu blicken.
Wenn er dann noch in den unmöglichsten Momenten einfach nur glücklich ist, weil seine Liebe offensichtlich erwidert wird oder er die verschneiten, leeren Straßen von Kars wunderschön findet, während andernorts Chaos herrscht und Menschen umgebracht werden, wusste ich mit ihm wirklich nichts mehr anzufangen.
Dieses Problem hatte ich aber mit den meisten Figuren, die mir fast alle in ihren Reaktionen und Gedaenken sehr fern waren. Eine gewisse Fremdartigkeit war sicher beabsichtigt bzw. ergibt sich wohl auch durch den anderen kulturellen Hintergrund, aber dadurch, dass die Figuren allesamt sehr blass bleiben, konnte ich keinen Ankerpunkt finden – wenn ihr versteht, was ich meine.

Seltsam ist auch die Rolle, die die Gedichte in dem Roman spielen: In Kars entsteht der Gedichtband „Schnee“, dessen einzelne Gedichte Ka praktisch zufliegen. Er wirft sie alle schnell mal eben aufs Papier und das in den unterschiedlichsten Situationen, aber man erfährt nichts über ihren Inhalt, kein einziges wird zitiert. So wird zwar klar, dass Ka darin auf bestimmte Ereignisse und Orte Bezug nimmt, aber trotzdem kam es mir vor als würden diese zusätzliche Ebene im luftleeren Raum schweben. Man kann sich kein Bild von den Gedichten machen und auch kein Bild von Kas Gedanken und Empfindungen, die er offensichtlich ganz in seine Lyrik legt.

Ich hatte ganz ähnliche Probleme bereits mit Pamuks „Museum der Unschuld“ und hatte gehofft, dass mir „Schnee“ besser gefallen würde. Nun aber schätze ich, dass ich für mich nun mit diesem Autor abschließen werde.
Der Roman schneidet zwar sehr brisante Themen an, wirkt stellenweise hochaktuell und schildert auch sehr schonungslos die Brutalität des Militärs, ist dabei aber so langatmig, dass man irgendwann nicht mehr weiß, worauf der Autor eigentlich hinauswill. Umso länger ich an dem Roman gelesen habe, umso weniger hat er mich berührt und umso weniger hat er mich dazu angeregt, selbst über gewisse Fragen, die darin aufgeworfen werden, nachzudenken.
Schade, denn der Anfang hat mir sehr gut gefallen und auch die Handlung an sich wäre eigentlich spannend gewesen. Aber selbst das interessanteste Thema lässt sich leider zu Tode schreiben.

11 thoughts on “Orhan Pamuk – Schnee

  1. Ich glaube, ich hätte das Buch – Challenge hin oder her – nicht beendet. Es klingt nach genau der Art von Geschichte, mit der ich entsetzlich schnell die Geduld verliere. Umso bewundernswerter finde ich es, dass du durchgehalten hast! 🙂

    1. Ich war zwischendurch schon mal nahe dran abzubrechen, aber ich breche sehr ungern Bücher mittendrin ab (eher, wenn es mir gleich am Anfang nicht gefällt).
      Letztendlich bin ich auch froh, dass ich es zu Ende gelesen habe und es nicht noch weitere Jahre auf meinem SuB herumliegt. Es war ja auch nicht richtig schlecht, nur zäh zu lesen.

    2. Ich breche auch nur ungern Bücher ab, ärgere mich aber dann immer darüber, dass ich so viel Zeit mit so einem Buch verbracht habe. Denn wenn es mir so wenig gefällt, mache ich erst einmal ganz viele andere Dinge, bevor ich wieder zum Buch greife, versuche parallel nichts anderes anzufangen und fühle mich einfach durch meine eigenen Grundsätze belastet. Daran versuche ich gerade wirklich zu arbeiten. 😉

  2. Hm, schade – Orhan Pamuk hatte mich ja auch sehr interessiert, welches Buch auch immer, und dieses klingt von der Handlung her eigentlich sehr interessant – aber was du kritisierst, würde mich definitiv auch stören …
    Naja, versuchen werde ich es vermutlich doch mal mit dem Autor, mal sehen, was unsere Stadtbücherei von ihm da hat … da kann man dann ja auch einfach nur mal reinschnuppern, ohne dass man sich ärgern muss, weil man Geld ausgegeben hat.

    1. Meiner Mutter hat "Das stille Haus" sehr gut gefallen. Das ist auch ein eher dünnes Buch und leidet vielleicht nicht an der Langatmigkeit der Romane, die ich von ihm kenne. Also falls dir das in der Bücherei unterkommt, wäre das ja vielleicht etwas.

  3. Na, du machst mir ja Mut … Ich habe von Pamuk "Rot ist mein Name" im Regal. 570 Seiten lang … Immerhin kann ich mir einreden, dass das Buch vielleicht doch noch ein bisschen besser ist als die beiden, die du gelesen hast.

    Ich lege übrigens im November einen Nobelpreisträger-Marathon ein und hoffe, damit die Challenge doch noch erfolgreich zu beenden. Bin gespannt, ob das klappt. 😉

    1. Sorry, ich wollte dich nicht entmutigen … Ich hoffe mal sehr, dass dir "Rot ist mein Name" besser gefällt als mir "Schnee".

      Bei dem Marathon muss ich mich wohl anschließen, falls ich nicht schon vorher das Handtuch werfe. Aber morgen fahre ich zu meiner Familie, vielleicht schnappe ich mir dort mal etwas von Pearl S. Buck oder ich versuch es mit der "Forsyte Saga".

    2. Nachtrag: Oha, ich hab grad gesehen, wieviele Seiten die Forsyte Saga hat … Na, zu der werde ich dann wohl eher nicht greifen, sonst wird das mit der Challenge garantiert nichts mehr. *gg*

  4. Grüß Dich, Neyasha.
    Ich denke, daß Religionen & Ideologien – in summa Dogmen also – den Menschen in den reinen Wahnsinn zu treiben verstehen. Ein Tanz um goldene Kälber, die irgendwer beschließt in den Raum zu stellen & für sakrosant zu erklären.
    Denn was unterscheidet Gewalt, Unterdrückung & Mord im Namen wirrer Gedanken von denen aus räudigen Motiven?
    Nichts.

    Ein wenig off topic – aber eine grundsätzliche Überlegung.

    bonté

    1. Das stimmt, wobei Religionen prinzipiell ja auch die gegenteilige Macht haben, nämlich die, in Menschen Nächstenliebe, Mitgefühl und das Streben nach Frieden zu entfachen. Sehr traurig, dass sie stattdessen meist eher zu einer negativen Dynamik führen.

      In "Schnee" allerdings kommt auch die andere, die atheistische Seite nicht sonderlich gut weg. Jeder will seine Wahrheit durchsetzen und notfalls auch mit Gewalt.

    2. …um als Mensch Gutes zu tun, braucht es nicht wirklich einer Religion, denke ich. Dies, zumal sie im Verlauf der Menschheitsjahrtausende gekommen und gegangen sind.

      Der Atheismus, wie im Buch beschrieben, ist jetzts nichts anderes als eine Religion des nicht glauben müssens. Eben weil er zu Bekehren (!) versucht, Dogmen aufstellt ect.

      bonté

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