Genre: Krimi
Seiten: 336
Verlag: Fischer Taschenbuch
ISBN: 978-3596511730
Meine Bewertung: 4,5 von 5 Sternchen
Aus dem Englischen übersetzt von Rebecca Gablé
In Gull’s Point kommt im Sommer eine explosive Mischung an Personen zusammen: Der gefeierte Tennisspieler Nevile Strange besucht Lady Tressilian, die ihn einst großgezogen hat und bringt seine neue Frau Kay mit. Zur selben Zeit finden sich dort aber auch seine erste Ehefrau Audrey, ein Verehrer von Kay, sowie Neviles Vetter Thomas, der lange in Audrey verliebt war, ein. Kein Wunder, dass es nicht der entspannende Urlaub wird, den die Beteiligten sich gewünscht hätten. Bald darauf gibt es die erste Leiche und auch die zweite lässt nicht lange auf sich warten.
Früher habe ich Agatha Christies Krimis rauf und runter gelesen, bis ich irgendwann ein wenig übersättigt war. In den letzten Jahren habe ich dann immer wieder mal zu Büchern von ihr gegriffen und war mal mehr, mal weniger begeistert. „Kurz vor Mitternacht“ gehört nun zu denen, die mich sehr gefesselt haben, auch wenn es sich dabei um einen Krimi der etwas anderen Art handelt.
Er beginnt mit einigen Ereignissen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben – und mit Figuren, zwischen denen es keine Verbindung zu geben scheint. Hier braucht man etwas Geduld und das Vertrauen, dass die Autorin einen Grund dafür haben wird, ausgerechnet diese Ereignisse zu schildern. Und natürlich: später fügt sich alles ineinander.
Nach dieser Exposition beginnt der Roman dann in Gull’s Point bei Lady Tressilian, wo es zwischen den beiden Frauen von Nevile erwartungsgemäß zu Spannungen kommt, die schließlich auch die ganze Gesellschaft, die sich dort eingefunden hat, ergreift. Bald kommt das Gefühl einer unterschwelligen Bedrohung auf, das durch die Erzählungen von einem rätselhaften Mordfall (oder war es doch nur ein Unfall?) in der Vergangenheit noch verstärkt wird. Obwohl also die eigentlichen Ermittlungen erst spät einsetzen, lässt die Spannung auch vorher nicht zu wünschen übrig und man wird auch schon mit einigen kleineren Rätseln konfrontiert.
Die Ermittlungen schließlich leitet ein Polizist von Scotland Yard, also keiner von Christies berühmten Spürnasen wie Poirot oder Miss Marple. Die Ermittlungsarbeit ist vielleicht nicht ganz so ausgefeilt, wie man es sonst von Agatha Christie kennt, aber das stört gar nicht, da in diesem Roman der Schwerpunkt eben anders gesetzt ist.
Es ist mehr ein sehr atmosphärisches Psychogramm als ein klassischer Krimi mit falschen Fährten (obwohl diese auch nicht fehlen). Und gerade diese etwas unüblichen Krimis von Agatha Christie haben mir in den letzten Jahren fast am besten gefallen. Sie hat ein gutes Händchen für interessante Figuren und ebenso interessante Beziehungen zwischen ihnen und so habe ich es wirklich genossen, über Nevile und Kay und die anderen zu lesen.
Zur Auflösung mag es zwar etwas schneller kommen als etwa bei den verschlungenen Fällen, mit denen es Poirot meist zu tun hat, aber es gibt trotzdem überraschende Wendungen und ein zufriedenstellendes Ende, das keinerlei Fragen offen lässt.
Das einzige, was mich gestört hat, war eine etwas überhastete Liebesgeschichte, die zum Ende hin noch eingefügt ist und die für mich ein wenig fehl am Platz war.
Von diesem kleinen Schönheitsfehler abgesehen gehört „Kurz nach Mitternacht“ für mich aber zu den Highlights unter Agatha Christies Büchern. Ich könnte mir vorstellen, dass der Roman nicht ganz jedermanns Fall ist, da viele vielleicht bei einem Christie-Krimi etwas anderes erwarten. Mir hat er aber gerade deshalb so gut gefallen, weil er ein wenig aus der Reihe schlägt.
Bonjour, Neyasha.
Aufgewachsen mit der Flimmerkiste, gehöre ich eher einer Generation an, die literarische Grundausbildung weitaus eher über filmische Adaptionen genoß. Das Werk von Agatha Christie wäre für mich ein klassisches Beispiel hierfür; inklusive der Besonderheit, daß ich auch jetzt noch keinen Ihrer Krimis gelesen (!) hätte. So habe ich Serien, Filme, Fernsehfilme und – allen voran – die (damalig modernisierte) Version einer Miss Marple, von Margaret Rutherford im Kopf.
Es scheint offensichtlich, daß Lady Tressilian keinsterlei Gespür dafür hat, was die Zusammenstellung ihrer Gästeliste angeht. Es sei denn natürlich sie tut dies aus Berechnung & in voller Absicht.
Daß nicht spontan eine "zufällig" gerade anwesende Lichtgestalt kriminalistischen Genies hereinschneit, sondern jemand vom normalen "Bodenpersonal" halte ich für einen durchweg sympathischen Zug der Autorin.
Solange es nur eine Romanze ist, die kurz vor Schluß noch eingebaut wird, und nicht der Täter, die Meuchlerin..!
Immerhin ein schwerer Vorwurf, den Lionel Twain seinen Gästen – von Sidney Wang, über Sam Diamond bis Milo Perrier – macht… 🙂
bonté
Ich glaube, dass viele Miss Marple vor allem aus den Filmen kennen. Ich habe mit denen erst vergleichsweise spät begonnen – irgendwann als Teenager, während ich mit den Büchern so richtig intensiv begonnen habe, als ich 10 Jahre alt war.
Die arme Lady Tressilian ist da ziemlich unschuldig, da sich die meisten Gäste sozusagen selbst eingeladen haben. Sie ist nämlich mit der Situation auch nicht besonders glücklich.
…vermutlich hatten genau deswegen die Altvorderen Dinge wie Burggraben, Zugbrücke & Pechnasen. 🙂
bonté
Ja, das wäre auch heutzutage manchmal noch praktisch gegen ungebetene Gäste. 😉