erschienen bei Hoffmann und Campe
Im Jahr 1899 begegnen sich in New York eine Frau aus Ton und ein Mann aus Feuer: Chava ist ein Golem, erschaffen von einem Rabbi als Ehefrau für einen Auswanderer. Doch noch vor der Ankunft in New York stirbt der Mann und Chava ist ganz auf sich alleine gestellt. Ahmad ist ein Dschinn aus der syrischen Wüste, der vor einigen Jahrhunderten von einem Zauberer in eine Flasche eingeschlossen wurde. Ein Kupferschmied in New York befreit Ahmad aus seiner Gefangenschaft. Sowohl Chava als auch Ahmad leiden unter der Einsamkeit ihrer Andersartigkeit und fühlen sofort eine Verbindung, als sie einander begegnen. Doch es gibt jemanden, der auf der Suche nach ihnen ist.
„Golem und Dschinn“ ist ein ungewöhnlicher phantastischer Roman, in dessen Zentrum der Handlung ganz die Figuren stehen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Chava kann als Golem die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen spüren und ohne einen Meister fühlt sie sich nicht nur verloren, sondern hat auch Angst vor ihren eigenen übermenschlichen Kräften. Sie ist darum bemüht sich anzupassen, nicht aufzufallen und sich so etwas wie ein Leben in New York aufzubauen. Ahmad dagegen ist impulsiv und ungeduldig und kann nur schwer die Schranken akzeptieren, die ihm sein menschlicher Körper auferlegt. Sein Freiheitsdrang führt ihn mehr als nur einmal in brenzlige Situationen. Trotz ihrer Unterschiede fühlen sich die beiden in ihrer Fremdartigkeit verbunden und ganz allmählich entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft oder vielleicht sogar Liebe.
Doch auch die Nebenfiguren bekommen viel Raum und werden häufig sogar mit ihrer ganzen Lebensgeschichte eingeführt. Das könnte anstrengend sein, wird von Helene Wecker aber so gelungen umgesetzt, dass alle Fäden ineinander greifen und ein sehr buntes Gesamtwerk ergeben.
Daneben spielt auch die Stadt New York selbst eine prominente Rolle. Es hat mir sehr gut gefallen, wie die verschiedenen Stadtteile (vor allem Little Syria und die jüdische Lower East Side) sowie die diversen Auswanderergruppen dargestellt werden. Sehr interessant ist es auch, Ahmad bei seinen rastlosen, nächtlichen Spaziergängen durch die Stadt zu begleiten.
Über weite Strecken könnte man „Golem und Dschinn“ fast als historischen Roman bezeichnen, da abgesehen von den beiden übermenschlichen Hauptfiguren zunächst wenige phantastische Elemente vorkommen. Im Laufe der Geschichte werden diese etwas mehr, wobei der Fantasyanteil dieses Romans sehr stark auf Legenden, Mythen und abergläubischen Vorstellungen basiert. Dazu passt auch die ruhige, ein wenig altmodische Erzählweise.
Obwohl teilweise vermeintlich gar nicht viel passiert, geschieht sehr viel im Inneren der Figuren. Und ein ständiges Gefühl der Bedrohung, das über dem Roman liegt, verleiht diesem auch eine ganz besondere Spannung. Denn Chava und Ahmad schweben nicht nur in ständiger Gefahr als nicht-menschliche Wesen erkannt zu werden, sondern es taucht auch ein Mann aus ihrer Vergangenheit in New York auf, der sich auf die Suche nach ihnen macht.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass mir das Tempo in dem Buch nicht ganz ausgewogen vorkommt. Während es im Mittelteil leider doch ein paar Längen gibt, überschlägt sich am Ende die Handlung fast. Der „Showdown“ wurde nach meinem Gefühl zu schnell abgehandelt, auch das Ende wirkte ziemlich gehetzt. Bei einem Buch von gut 600 Seiten müsste das nicht sein und darunter leidet im letzten Viertel meiner Meinung nach auch die Atmosphäre ein wenig.
Dennoch ein sehr interessanter und mal ganz anderer Fantasyroman, der mich mit seinen gut ausgestalteten Figuren und der gelungenen Mischung aus historischem Roman und Urban Fantasy überzeugen konnte.