Genre: Historischer Roman/Biographie
Seiten: 624
Verlag: Berlin Verlag
ISBN: 978-3827000125
Meine Bewertung: 5 von 5 Sternchen
Historien-Challenge (19. Jahrhundert)
Eine reale Begebenheit liegt diesem Roman zugrunde: 1843 wurde in Kanada die 16jährige Grace Marks des Mordes an ihrem Arbeitgeber und dessen Haushälterin angeklagt und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Verbrechen erregte großes Aufsehen und gab auch einige Rätsel auf. So erzählte Grace bei ihrer Verhaftung eine andere Geschichte als bei der Gerichtsverhandlung, und wiederum etwas anderes behauptete der ebenfalls verurteilte James McDermott, der zum Tode verurteilt wurde. Ob Grace Mittäterin war oder lediglich Mitwissende oder möglicherweise völlig unschuldig, war ebenso unklar wie die Frage, in welchem Verhältnis sie zu James McDermott stand.
Margaret Atwood hat sich dieser historischen Person angenommen und versucht, einige dieser Fragen zumindest literarisch zu beantworten.
In ihrem Roman begegnet man Grace nach langen Haftjahren, als der Nervenarzt Simon Jordan sie regelmäßig aufsucht, um hoffentlich endlich die Wahrheit über die Morde zu erfahren. Grace erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, bis sie schließlich mithilfe von Hypnose ihre verlorenen Erinnerungen an die Morde wiederfinden soll.
„Alias Grace“ ist ein wunderbarer Roman. Es ist ein Krimi, eine psychologische Studie, eine Biografie und vor allem: eine großartige Schilderung des Lebens im Kanada Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht um Politik und große Herrscher, sondern eher um das Leben der „einfachen“ Leute und alltägliche Dinge: das Leben eines Dienstmädchens, die Zustände in einem Gefängnis zu dieser Zeit, die Schwierigkeiten einer Schiffsreise von Irland nach Kanada und die Anfänge der Psychologie, so wie wir sie heute kennen.
All das schilderte Margaret Atwood so anschaulich, dass man das Gefühl hat, mittendrin zu sein. Sie hat einen wunderbaren Blick für Details und schreibt sowohl aus Grace‘ Sicht als auch aus der von Simon Jordan sehr glaubwürdig und überzeugend. Einige eingestreute Briefwechsel unterstreichen noch das Gefühl von Authentizität.
Auch sonst gibt es aus meiner Sicht an dem Roman nichts zu meckern. Obwohl das Erzähltempo zeitweise eher gemächlich ist, fand ich ihn niemals langweilig. Grace‘ Kindheit und Jugendzeit war ebenso spannend zu lesen wie ihr Alltag im Gefängnis und ihre Arbeit für die Frau des Gefängnisdirektors. Dabei mochte ich ihre Perspektive mehr als die des Arztes, auch wenn Simon Jordan als Figur durchaus interessant beschrieben ist.
Den Schreibstil von Margaret Atwood liebe ich sowieso. Jedes Wort ist präzise gesetzt, und trotz der anschaulichen und lebhaften Beschreibungen ist die Sprache eher schnörkellos. An keiner Stelle bin ich über holprige Sätze gestolpert; stets passte die Wortwahl zu den jeweiligen Figuren.
Der Roman liefert übrigens keine endgültige „Auflösung“ – was man am Ende glauben möchte, bleibt einem selbst überlassen. Dennoch ist das Ende nicht unbefriedigend, und im Laufe des Romans werden einige kleine Hinweise gestreut, die einem vielleicht nicht unbedingt eine wirkliche Lösung bieten, aber eine gewisse Richtung vorgeben.
Alles in allem ein wirklich großartiger Roman, der sich meisterhaft zwischen Fiktion und Wirklichkeit bewegt und ein spannendes psychologisches Porträt einer Epoche zeichnet.
Ich kann den Roman nur wärmstens empfehlen, wie übrigens auch viele andere Werke von Margaret Atwood.
Das gibt natürlich die Höchstwertung von 5 Sternchen – unter meinen bisherigen Romanen für die Historien-Challenge ist das eindeutig der Höhepunkt!
Ui, das hört sich aber wirklich gut an. Muss ich mir gleich mal auf die Liste setzen. Mal gucken, ob es das in unserer Stadtbücherei gibt …
Jetzt freu ich mich noch mehr auf das Buch 😀 Danke für die tolle Rezi 🙂
Oh, hast du das Buch etwa auf deinem SuB? Dann wünsch ich dir ein schönes Lesen! 🙂
@Birthe: Also ich hatte es aus der Bücherei. Ich drück dir die Daumen, dass du es bei euch auch auftreibst.