Entwicklungsroman Klassiker Rezensionen

Charles Dickens – Große Erwartungen

Genre: Klassiker, Entwicklungsroman
Seiten: 612
Verlag: insel taschenbuch
ISBN: 9783458352389
Meine Bewertung: 4 von 5 Sternchen

„Bücher, die man gelesen haben muss“-Challenge

 

„Große Erwartungen“ hat mich durch meine Jugend begleitet – nicht der Roman allerdings, sondern die moderne Filmadaption von Alfonso Cuarón aus dem Jahr 1998, die ich damals einige Male gesehen habe und deren beeindruckende Bilder etwa von dem verfallenen Haus Miss Havishams sich mir stark eingeprägt haben. Somit waren mir die Grundzüge der Handlung bereits bekannt:
Der Waisenjunge Pip wächst bei seiner Schwester und deren Mann auf und ist trotz der ärmlichen Verhältnisse im Großen und Ganzen mit seinem Leben zufrieden. Dann aber bestellt ihn die wunderliche Miss Havisham zu sich, offensichtlich als Spielgefährten für ihre Ziehtochter Estella. Pip ist von dem arroganten und schönen Mädchen fasziniert und wünscht sich fortan nur noch eins: ein reicher, vornehmer Mann zu werden, um gut genug für sie zu sein. Als ein unbekannter Wohltäter ihm in London ein Leben als Gentleman ermöglicht, scheinen sich Pips große Erwartungen zu erfüllen.
 
Mit Pip hat Charles Dickens einen Helden geschaffen, der voller Fehler und Eitelkeiten ist und gerade deshalb sehr viel Entwicklungspotenzial bietet. Obwohl er sich oft überheblich und rücksichtslos verhält, war er mir doch über weite Strecken des Romans sympathisch. Das liegt vor allem an den reflektierenden Kommentaren von Pip über sein falsches Verhalten. Es ist schwer, ihm sein Verhalten übelzunehmen, wenn er sich ohnehin selbst bereits Vorwürfe deshalb macht.
Pip ist also mit seinen Schwächen, aber auch mit seiner charakterlichen Entwicklung eine rundum gelungene Hauptfigur.
Die Nebenfiguren hingegen schwanken zwischen realistisch dargestellten Charakteren und den Dickens-typischen Extremen, die oft recht lächerlich wirken. Das ist zum Lesen ganz amüsant, stellenweise aber doch nervig. Großartig fand ich dagegen den exzentrischen Mr. Wemmick und Pips Freund Herbert, zumal auch die Freundschaft zwischen ihnen wunderbar geschildert wird. Ungemein sympathisch ist auch Joe, Pips Schwager, der zwar ein herzensguter Mensch ist, sich aber in feiner Gesellschaft so ungeschickt verhält, dass Pip sich für sein einst geliebtes Vorbild schämt.
Sowohl die Figuren als auch die Schauplätze (angefangen von den unwirtlichen Marschen bis hin zu Wemmicks kleiner „Burg“) werden so anschaulich geschildert, dass sie alle vor meinem inneren Auge Gestalt angenommen haben.
Einzig Pips Liebe zu Estella fand ich im Roman vor allem zu
Beginn nicht sehr nachvollziehbar, da Estella zunächst wirklich keinen
Anlass dafür liefert, sie zu mögen. Sie ist stolz, arrogant, unhöflich und vermittelt noch nicht einmal den Eindruck, dass eine besondere Faszination von ihr ausgeht. Das ist etwas, das ich in der Verfilmung tatsächlich bei weitem besser umgesetzt fand.
 
Der Plot in „Große Erwartungen“ besteht aus einer Vielzahl von Fäden, die alle meisterhaft ineinander verknüpft werden. Da ich die Handlung an sich ja bereits kannte, haben mich die Plotwendungen leider nicht mehr überrascht, die einem wohl sonst schon auch mal den Mund offenstehen lassen.
Ein paar kleine Längen gibt es allerdings – vor allem am Anfang und in der Mitte des Romans. Die Handlung plätschert einfach stellenweise zu sehr vor sich hin und scheint auch manchmal nicht sehr zielgerichtet (auch wenn die meisten vermeintlich überflüssigen Szenen letztendlich doch eine wichtige Rolle spielen).
 
Insgesamt fand ich den Roman aber gut zu lesen und auch auf der emotionalen Ebene fesselnd. Pip und die anderen sind mir zum Ende hin doch so sehr ans Herz gewachsen, dass es mir schwerfiel, mich von ihnen zu verabschieden.

 

7 thoughts on “Charles Dickens – Große Erwartungen

  1. Ich hatte mir ja so fest vorgenommen, dass ich für die Challenge Dickens lese … ich glaube, ich muss mich mal endlich in der Bibliothek danach umgucken! Danke, dass du mir mit deiner Rezension wieder Lust auf Dickens gemacht hast! 🙂

    1. Ich muss ja zugeben, dass ich sonst von Dickens auch nur die Weihnachtsgeschichte kenne und einzelne Ausschnitte aus diversen Romanen. Insofern kann ich natürlich auch nicht beurteilen, ob "Große Erwartungen" eher zu seinen Sternstunden oder seinen schwächeren Werken gehört. 😉
      Ich bin mal gespannt, welchen Dickens du lesen wirst!

    2. Ich habe als Jugendliche einige Sachen von Dickens gelesen, bin mir aber inzwischen nicht mehr sicher, ob das nicht gekürzte Ausgaben waren. Deshalb wollte ich ja unbedingt mit einer definitiv ungekürzten Ausgabe noch ein paar Dickens-Experimente machen. 😉

  2. Dickens ist von Buch zu Buch verschieden, finde ich. Zuerst habe ich bei Librivox eine englische Lesung von "David Copperfield" gehört (von Tadhg gelesen) und das hat mich, auch durch die fantastische Stimme, umgehauen.
    "Große Erwartungen" habe ich dann in der neuen Übersetzung gelesen und fand es im Vergleich eher schwierig, gerade weil die Story so ungewöhnliche Schlenker macht und der Protagonist nicht gerade der Sympathieträger schlechthin ist. Als nächstes hab ich mir "A Tale of Two Cities" vorgenommen; der erste Satz ist ja schon extrem einschüchternd…

    1. Oh, und ich hab immer gedacht, "Große Erwartungen" wäre im Vergleich zu den anderen Romanen von Dickens recht einfach (ich weiß aber nicht, weshalb ich das dachte).

  3. Mir hat das Buch recht gut gefallen, aber ich meine mich auch an einige Längen zu erinnern. Mal sehen, ich werde das Buch demnächst als Graphic Novel nochmal lesen – bin schon gespannt! 😉

    Was mir in besonders guter Erinnerung blieb, das war "Die Pickwickier", mehr ein Schelmenroman. Hat auch ein paar Längen, hat mir aber insgesamt viel Spaß gemacht.

    1. "Die Pickwicker" tummeln sich (wie alle Romane von Dickens) auf meinem Reader, aber bisher hatte ich sie noch nicht so wirklich auf dem Schirm, da das ja ein vergeichsweise doch eher unbekannter Roman von ihm ist.
      Vielleicht sollte ich es doch mal damit probieren, danke für den Tipp!

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