Rezensionen Sachbuch

Swetlana Alexijewitsch – Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft

Berichte von Zeitzeugen

erschienen bei Piper

 2015 erhielt die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis für ihre literarischen Reportagen. Eine davon ist das 1997 erschienene Buch „Tschernobyl“, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde (2001 erstmals ins Deutsche), aber in Weißrussland verboten ist.
 
Die Autorin stellt darin Berichte von über dreißig Menschen zusammen, mit denen sie im Laufe von vielen Jahren gesprochen hat. Es handelt sich nicht um Interviews, sondern um Monologe, in denen alleine die betroffenen Menschen zu Wort kommen. Dabei sind diese Monologe nicht chronologisch aufgebaut und sie liefern auch keine eigentliche Dokumentation der Ereignisse. Vielmehr sind es sehr unterschiedliche Stimmen, die davon berichten, wie die Katastrophe von Tschernobyl ihr Leben beeinflusst und verändert hat.
Es kommen Liquidatoren ebenso zu Wort wie deren Familienmitglieder, Umsiedler, Menschen, die in der verbotenen Zone leben (sowohl Rückkehrer als auch Kriegsflüchtlinge, die hier eine Heimat gefunden haben), Wissenschaftler, Ärzte und Soldaten. Sie erzählen davon, wie es ihnen zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls ergangen ist und wie sie heute leben.
Dadurch entsteht ein sehr umfassendes Bild davon, was Tschernobyl auch noch heute für die betroffenen Regionen bedeutet und wie sehr es das Leben der Menschen verändert hat.
 
Ich fand das Buch sehr interessant, aber – auf der emotionalen Ebene – auch sehr schwierig zu lesen. Die Schicksale darin sind mir dermaßen unter die Haut gegangen, dass ich immer nur kleine Teile am Stück lesen konnte. Besonders erschreckend fand ich die Ungewissheit und Unwissenheit, die über Wochen und Monate herrschte, da vom Sowjetregime vieles verschwiegen oder heruntergespielt wurde. Die Männer, die unmittelbar nach der Katastrophe und auch noch lange danach mit Aufräumarbeiten und dem Errichten des Schutzmantels über dem Reaktor beschäftigt waren, hatten großteils keine Ahnung, worauf sie sich da einließen (oder einlassen mussten).
 
Die Berichte zeigen auch deutlich, wie nachhaltig der Reaktorunfall das Leben der Menschen aus der Umgebung verändert hat: Wie sie als „Verstrahlte“ Stigmatisierung und Ausgrenzung erlebten, plötzlich die Natur und landwirtschaftlichen Erzeugnisse als Feinde betrachten mussten und wie eine unbeschwerte Kindheit auf einmal unmöglich wurde.
Aber auch über die unmittelbare Umgebung hinaus veränderte sich durch die damaligen Ereignisse das Denken und Leben vieler Menschen – und diese Veränderungen und Unsicherheiten halten noch immer an. Aus vielen der Erzählungen spricht eine unglaubliche Resignation und Hoffnungslosigkeit.
 
„Tschernobyl“ ist ein sehr aufwühlendes und erschreckendes, aber unbedingt lesenswertes Buch. Da die Erzählungen der Menschen unkommentiert zusammengestellt sind und oft auch sprunghaften Gedankenschnipseln nahekommen, ist es teilweise auch formal nicht ganz leicht zu lesen. Gleichzeitig wird es dadurch aber auch sehr unmittelbar und authentisch.
Ob eine stärker literarische Aufbereitung wünschenswert gewesen wäre, kann man sicher diskutieren, aber ich fand es gerade gut, dass auf diese Weise ganz die Stimmen der Menschen im Mittelpunkt stehen.
 
Zum Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“ schreibt Swetlana Alexijewitsch in einer Art Vorwort:
 
Was sich in Tschernobyl am meisten einprägt, ist das Leben „danach“: Dinge ohne Menschen, Landschaften ohne Menschen. Wege ins Nichts, Telegrafendrähte ins Nichts. Hin und wieder fragt man sich: Was ist das – Vergangenheit oder Zukunft?
Manchmal fühle ich mich wie eine Chronistin der Zukunft …
(S. 50)

2 thoughts on “Swetlana Alexijewitsch – Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft

  1. Puh… da krieg ich ja schon beim Lesen deiner Rezension eine Gänsehaut. Ich glaube nicht, dass ich dieses Buch lesen möchte. Ich kann mich noch zu gut an den Tag erinnern, als das alles passierte.

    lg, A.

    1. Ja, bei meiner Familie sind die Erinnerungen auch noch sehr deutlich.
      Was ich an dem Buch besonders gut finde, ist, dass es nicht eine Beschreibung der Ereignisse ist, sondern dort Menschen "wie du und ich" zu Wort kommen. Aber ja, gerade das macht das Buch auch besonders heftig zu lesen.

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