Rezensionen Sachbuch

John Garth – Tolkien und der Erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde

erschienen bei Klett-Cotta
woher: Büchereien Wien (Onleihe)

Das Bild von Tolkien ist meist das eines Professors in mittleren Jahren, der sich neben der wissenschaftlichen Forschung seiner Welt Mittelerde und dem Schreiben seines Hauptwerkes „The Lord of the Rings“ widmete. Dieses Buch dagegen beschäftigt sich mit der Zeit davor, lange bevor das berühmte Epos überhaupt ein Thema war.

Anders als es der Titel suggeriert, konzentriert sich John Garth dabei nicht nur auf die Zeit des Ersten Weltkriegs, sondern auch auf die Jahre davor, als Tolkien zusammen mit seinen Mitschülern Christopher Wiseman, Rob Gilson und G.B. Smith die „Tea Club and Barrovian Society“ (TCBS) gründete. In diesem literarischen Zirkel, wie man ihn vielleicht nennen kann, diskutierten die vier Teenager über Literatur und Sprache und begannen ihre ersten eigenen Texte zu entwerfen.

Ich fand gerade diesen Anfang sehr interessant zu lesen. John Garth beschreibt sowohl die Freundschaft als auch die große Schöpfungskraft dieser vier unglaublich anschaulich. Es ist faszinierend, auf diese Weise die ersten Schritte von Tolkien zu dem Schriftsteller, der er einmal werden sollte, mitzuerleben. Anders als die meisten seiner Klassenkameraden galt sein Interesse weniger der klassischen antiken Literatur als eher altenglischen und altnordischen Mythen und Texten. Inspiriert davon verfasste Tolkien eigene Gedichte, die zunächst aber entweder in der Realität oder einem undefinierten Feenland angesiedelt waren.

Der Beginn seiner eigenen Mythologie war ein Hinweis auf Éarendel, den „glänzendsten aller Engel“, der Tolkien als Aurvandill in der nordischen Mythologie erneut begegnete. Tolkien überlegte, was für ein Ursprung dahinter stecken könnte und so entstand sein Earendil, der mit einem Schiff über den Himmel segelt und als Morgen- und Abendstern erscheint. In seinen letzten Schuljahren und seiner Studienzeit in Oxford beschäftigte Tolkien sich intensiv mit der Entwicklung einer eigenen Mythologie und einer eigenen Sprache, wobei diese zunächst noch ganz in unserer Welt verankert war und erst spät zu etwas Eigenständigem wurde.

In dieser Zeit höchster Inspiration, in der alle vier Mitglieder der TCBS eigene Texte erschufen, begann der Erste Weltkrieg und ab da ist das Buch sehr schmerzhaft zu lesen, auch wenn es faszinierend ist, wie die vier Freunde sogar noch an der Front und im Chaos des Krieges in Briefen über Literatur und das Schreiben diskutierten. John Garth zeichnet ein sehr detailliertes und sorgfältig recherchiertes Bild der Ereignisse während der Kriegsjahre. Er beschreibt einerseits die Kampfhandlungen, andererseits aber auch die Texte, die Tolkien in dieser Zeit schuf. Dabei zieht er durchaus auch Parallelen zwischen Tolkiens Kriegserfahrungen und seinem Werk, aber er geht hier sehr behutsam vor und neigt nicht zu verstiegenen Interpretationen.

Während des Krieges starben Gilson und Smith – ein Verlust, den man beim Lesen fast am eigenen Körper spürt. Tolkien hatte das „Glück“ krank zu werden und deshalb nach England zurückgeschickt zu werden.

Ich habe das Buch von John Garth als unglaublich interessant und spannend empfunden. Die Anfänge von Tolkiens Schaffen, die man heutzutage im „Buch der Verschollenen Geschichten“ nachlesen kann, finden sonst meistens deutlich weniger Beachtung als die Arbeit des Autors am Silmarillion und am Herr der Ringe. Und die TCBS, die eine derartig große Rolle in Tolkiens Jugend und Studien- sowie Militärzeit gespielt hat, findet neben den prominenteren „Inklings“ der späteren Jahre nur selten Erwähnung.

Das bedeutet zugleich aber auch, dass man mit diesem Buch vielleicht nicht sehr viel anfangen kann, wenn man von Tolkien tatsächlich nur den „Herr der Ringe“ kennt. Man muss schon ein wenig mit der Mythologie von Mittelerde vertraut sein (zumindest das „Silmarillion“ sollte man kennen), um John Garths Ausführungen entsprechend einordnen zu können.Wie bereits erwähnt, ist das Buch hervorragend recherchiert. John Garth stützt sich auf militärische Dokumente, Augenzeugenberichte und Briefe und zieht hier auch Quellen heran, die vorher in Biografien über Tolkien keine Beachtung fanden.

Für mich war dieses Buch eines der Lesehighlights dieses Jahres. Obwohl es sehr umfangreich ist und ich mitunter nicht alle Truppenbewegungen nachvollziehen konnte, hat es mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt und ich hätte gern noch mehr gelesen. Mit seiner Konzentration auf Tolkiens frühe Jahre, auf die Verschollenen Geschichten und die Gemeinschaft der TCBS deckt es bisherige Lücken ab und ist allen zu empfehlen, die sich genauer für die Anfänge von Tolkiens Schaffen interessieren.

3 thoughts on “John Garth – Tolkien und der Erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde

  1. Oh, das klingt spannend. Ich habe natürlich die Biografie von Humphrey Carpenter gelesen, aber sonst weiß ich relativ wenig über Tolkien. Allerdings ist es ziemlich lange her, das ich das "Silmarillion" und andere Sachen außer dem "Herrn der Ringe" und dem "Hobbit" und nun frage ich mich, ob mir da das Buch was bringt, wenn du schon so betonst, dass man das Hintergrundwissen im Kopf haben sollte.

    1. Also bei mir ist es auch schon relativ lange her, seit ich das Silmarillion und "Nachrichten aus Mittelerde" gelesen habe. Das sollte nicht das Problem sein. Ich denke nur, dass man mit dem Buch nicht viel anfangen kann, wenn man gar nichts von der Vorgeschichte Mittelerdes weiß und Namen wie Earendil, Melkor oder Luthien noch nie gehört hat.

      Die Biografie von Carpenter wird hier an einigen Stellen korrigiert, da Carpenter wohl keine Einsicht in die militärischen Dokumente hatte, insofern könnte das hier durchaus eine interessante Ergänzung sein.

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